Montag, 30. August 2010

Endocannabinoide vergrößern olfaktorische Empfindlichkeit

Franjo Grotenhermen ist Vorstand und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin

Das Endocannabinoidsystem aus Bindungsstellen für Cannabinoide (Cannabinoidrezeptoren) und körpereigenen Cannabinoiden (Endocannabinoide) hat eine große Bedeutung für unterschiedliche physiologische Vorgänge, die mit der Aufnahme von Nahrung zu tun haben, beispielsweise Hunger und Darmbewegungen. Es gibt zudem viele Berichte, die zeigen, dass Nahrung unter dem akuten Einfluss von Cannabis besser schmeckt und besser riecht, also appetitlicher und anregender auf Mensch und Tier wirkt. Wissenschaftler der Universität Göttingen, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der italienischen Endocannabinoid-Forschungsgruppe haben jüngst die Bedeutung der Endocannabinoide für die Geruchsempfindlichkeit bei Tieren genauer untersucht. Für diese Studie wurden Kaulquappen einer bestimmten Froschart verwendet.
Die Nahrungssuche wird durch den Geruchssinn geleitet. Die meisten Tiere und auch der Mensch nutzen Geruchsinformationen, um die Appetitlichkeit von Nahrung einzuschätzen und die Nahrungsaufnahme einzuleiten. Die Beeinträchtigung des Geruchssinns kann daher die Nahrungsaufnahme negativ beeinflussen. Es gibt zudem Hinweise, dass der Ernährungszustand die Empfindlichkeit für Gerüche beeinflusst. Allerdings ist bisher unklar, wie das genau geschieht.
Das Endocannabinoidsystem könnte in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielen. So finden sich auf Nervenzellen, die für die Weiterleitung von Informationen über Gerüche verantwortlich sind, sowie in der Geruchsschleimhaut Cannabinoidrezeptoren. Eine Blockierung dieser Rezeptoren reduziert die Empfindlichkeit für Gerüche, während die Gabe von THC oder anderen Cannabinoiden, die diese Rezeptoren aktivieren, die Empfindlichkeit erhöht. Im Falle von Hunger sind die Spiegel der körpereigenen Cannabinoide im Gehirn erhöht, sodass die Rezeptoren aktiviert und Gerüche stärker wahrgenommen werden.
Vor einigen Monaten veröffentlichten japanische Forscher von der Kyushu-Universität Ergebnisse, nach denen die beiden wichtigsten Endocannabinoide Anandamid und 2-AG in einer konzentrationsabhängigen Art und Weise den Geschmack für Süßes beeinflussen. Andere Geschmacksrichtungen (salzig, bitter, usw.) wurden dagegen nicht beeinflusst. Wie beim Geruch wird diese Wirkung durch den CB1-Rezeptor vermittelt, und die Autoren gehen davon aus, dass sie für die Nahrungsaufnahme von Bedeutung ist.
Diese Untersuchungen legen nahe, dass Tiere in einem hungrigen Zustand wegen ihres besseren Geruchssinn leichter Nahrung finden als satte Tiere. Da Nahrung besser riecht und auch besser schmeckt, also insgesamt appetitlicher erscheint, sind hungrige Tiere und Menschen auch eher bereit, Nahrung aufzunehmen – auch solche Nahrung, die in einem satten Zustand nicht sehr appetitlich erscheint.
Bereits im Jahr 2002 wurde eine Studie veröffentlicht, die gezeigt hat, dass nicht nur die Konzentration der Endocannabinoide im Gehirn Hunger und Appetit beeinflusst, sondern auch ihre Konzentration im Darm. So führte Nahrungsentzug bei Ratten zu einer Konzentrationszunahme des Endocannabinoids Anandamid im Dünndarm im Vergleich zum satten Zustand um das Siebenfache. Wurden die Tiere dann gefüttert, so normalisierten sich die Anandamid-Spiegel im Darm wieder. Auch im Darm finden sich CB1-Rezeptoren. Wurden diese Rezeptoren stimuliert, so förderte dies ein verstärktes Fressen bei zum Teil satten Ratten.
Seit langem ist bekannt, dass Cannabisprodukte den Appetit anregen. Dies gilt sowohl für Gesunde als auch für Kranke mit Krebs, Aids, der Alzheimer-Krankheit oder Hepatitis C. Viele Patienten profitieren dabei auch von weiteren Wirkungen der Hanfpflanze wie der Hemmung von Übelkeit, Schmerzlinderung und Steigerung des Wohlbefindens. Appetitanregende Effekte von Cannabis sind in vielen Kulturen seit vielen Jahrhunderten bekannt. Auch die europäischen Ärzte des 19. Jahrhunderts kannten diese bereits. So beschrieb der britische Cannabis-Pionier Sir William O‘Shaugnessy in seiner wegweisenden Veröffentlichung aus den Jahren 1838 bis 1840 eine „bemerkenswerte Appetitzunahme“ als Nebeneffekt bei allen seinen mit einer Cannabistinktur behandelten Patienten. Und in einem Artikel in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift aus dem Jahr 1890 heißt es: „Ich habe Kranke (…) gesehen, deren gastrische Hyperästhesie so gross war, dass sie keine Speisen mehr zu sich zu nehmen wagten und sich mit wenigen Mundvoll Milch begnügten. Sofort nach den ersten Dosen des Medicamentes fühlten sie eine derartige Linderung, dass sie ohne Nachteil selbst feste Speisen, unter anderen rohes oder gekochtes, gehacktes Fleisch, Pürees von getrockneten Hülsenfrüchten, Eier u.s.w. zu verzehren vermochten (…) Die Cannabis ist von konstanter Wirkung zur Beseitigung der Schmerzempfindungen und zur Wiederherstellung des Appetites, unter welchen Verhältnissen auch die Schmerzen und die Appetitlosigkeit auftreten mögen (…)“.
Die moderne Forschung konnte diese Ergebnisse bestätigen. Nach der Entdeckung des körpereigenen Cannabinoidsystems wurden und werden zudem nach und nach die detaillierten Mechanismen dieser Wirkungen entschlüsselt.

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