Mittwoch, 30. November 2022

In memoriam Christian Rätsch

Cannabis
Bild: Archiv

Dr. phil. Christian Rätsch, geboren 1957, studierte in Hamburg Altamerikanistik, Ethnologie und Volkskunde und promovierte – finanziert vom Deutscher Akademischer Auslandsdienst (DAAD) – zum Erlernen von Zaubersprüchen bei den Lakandonen, ein indigenes Volk im östlichen Chiapas, Mexiko. Er erlernte die Mayasprache der in Chiapas lebenden Lakandonenindianer, bei denen er insgesamt in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts drei Jahre lebte. „Wie könnt ihr im und vom Regenwald leben, ohne ihn zu zerstören?“ war die Frage, die den Hamburger Studenten Christian auf Pfaden des (weitgehend noch intakten) Regenwaldes zwischen Chiapas, Mexiko, und Guatemala zur Siedlung der letzten (noch) nicht missionierten Lakandonen. Bewegte.

Dort bei den Lakadonenindianer erreichte der noch junge Christian das Ziel seiner Träume – und die Quelle des Wissens und der Weisheit, die er in der Folge in zahlreichen Büchern veröffentlichte. So war Christian Rätsch beispielsweise zusammen mit John R. Baker Begründer und Herausgeber der „Jahrbücher für Ethnomedizin und Bewusstseinsforschung“ (Yearbook for Ethnomedicine and the Study of Consciousness), die im Verlag für Wissenschaft und Bildung (VWB) in Berlin in den Jahren 1992 bis 2000 erschienen sind.

Ethnomedizin und Bewusstseinsforschung

Ethnomedizin ist die Erforschung fremdkultureller medizinischer Konzepte (Kosmologie, Ätiologie), Verhaltensweisen (Rituale) und Produkten (Drogen, Amulette). Bewusstseinsforschung ist die Erforschung unseres eigenen Bewusstseins. In beiden Disziplinen ist unser eigenes Bewusstsein das eigentliche Forschungsinstrument. Es handelt sich sozusagen um eine Selbsterforschung und Selbsterkenntnis auf mehreren Ebenen. Je besser wir das Fremde verstehen, desto besser erkennen wir uns selbst. Sowohl die Ethnomedizin als auch die Bewusstseinsforschung bilden ein interdisziplinäres

Forschungsfeld für Anthropologen, Linguisten, Soziologen, Kunsthistoriker, Geomanten, Chaosforscher, Ethnopharmakologen, Ethnobotaniker, Pharmazeuten, Botaniker, Chemiker, Mediziner, Psychiater und Psychologen.

Die Aspekte ethnomedizinischer Systeme, die in erster Linie mit dem menschlichen Bewusstsein und dessen verschiedenen Zuständen, den sogenannten „Außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen“ (Altered States of Consciousness) verbunden sind, bildeten den Gegenstand der Forschung von Christian Rätsch.

Er versammelte bewusst unterschiedliche Ansätze aus der Wissenschaftsphilosophie, kognitiven Anthropologie, Sozialanthropologie, Ethnomykologie, Mykologie, Phänomenologie, Medizin, Psychoanalyse und Ethnopharmakologie.

Christian war auch Beiratsmitglied des Europäischen Collegiums für Bewusstseinsstudien (ECBS). Das 1985 ins Leben gerufene Europäische Collegium für Bewußtseinsstudien (ECBS) war ein multidisziplinäres Forum zur Förderung der Forschung und des Erfahrungsaustausches auf dem Gebiet der veränderten Bewusstseinszustände. Das Bewusstsein und seine Grundlagen rückten zu jener Zeit zunehmend in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Dabei waren Grenzbereiche und außergewöhnliche Erfahrungen von besonderer Bedeutung. Seit Jahrtausenden spielten sie eine wichtige

Rolle im Leben des Einzelnen wie auch im kulturellen Rahmen. Das Europäische Collegiums für Bewusstseinsstudien (ECBS) veröffentlichte eine Folge von Büchern, die unter dem Titel „Welten des Bewusstseins“ im VWB-Verlag in Berlin erschienen sind. Bereits im ersten Band, der 1993 erschien, veröffentlichte Christian dort einen Beitrag zur Ethnologie veränderter Bewusstseinszustände. Und im Band 9 dieser Reihe, der 1998 erschien, zeigte Christian seinen interdisziplinären Ansatz mit dem Beitragstitel „Schamanismus, Techno und Cyberspace: Von “natürlichen” und “künstlichen” Paradiesen.

Schamanische Wissenschaften

Bei den Schamanen lernte Christian Rätsch, dass das Empfinden der Einheit von Natur und Geist eine Selbstverständlichkeit ist. Im heutigen sogenannten aufgeklärten Zeitalter ist dieses ganzheitliche Erleben der Wirklichkeit weitgehend verloren gegangen. Christian Rätsch zeigt in seinen Publikationen, dass Theorie und Praxis der Schamanen für die westlichen Wissenschaftler von zentraler Bedeutung sein können.

Christian Rätsch hatte seinen eigenen Körper zur Beobachtungsstation für halluzinogen wirkenden Pflanzen und Pilze gemacht, wie einst Alexander von Humboldt und sein Reisebegleiter und Freund.

Aimé Bonpland auf ihrer mehrjährigen Reise vom 5. Juni 1799 bis zum 3. August 1804 in Süd- und Mittelamerika. Es gab kaum etwas, das sie nicht ausprobiert hätten. So berichtet von Humboldt von seinen Erfahrungen mit Niopo (Anadenanthera peregrina, auch Yopo, Parica, Cébil, Vilca oder Huilca genannt). Vor allem die Samen und die Rinde von Anadenanthera peregrina enthalten psychoaktive Substanzen. Sie sind reich an als Serotonin-Mimetika wirksamen Tryptaminderivaten, wie N,N-Dimethyltryptamin (N,N-DMT), N,N-Dimethyl-5-methoxytryptamin (5-MeO-DMT) und Bufotenin (5-

Hydroxy-dimethyltryptamin). Christian Rätsch hat wie einst Alexander von Humboldt im Rahmen der Traditionen der indigenen Bevölkerung Erfahrungen mit den am stärksten wirkenden psychoaktiven Pflanzen gemacht.

Christian Rätsch lebte mit seiner Lebensgefährtin Claudia Müller-Ebeling in Hamburg und war mit ihr auf zahlreichen Forschungsreisen unterwegs. Müller-Ebeling studierte Kunstgeschichte, Ethnologie, Indologie und Literaturwissenschaften in Freiburg, Hamburg, Paris und Florenz. Gemeinsam forschten sie über zwanzig Jahre lang unter anderem auf Guadeloupe, in Korea, im Amazonasgebiet und im Himalaya zu Heilpflanzen und Schamanismus sowie den elementaren Prinzipien schamanischer Kunst. Christian

Rätsch und Claudia Müller-Ebeling waren so fleißig wie ein ganzes Universitätsinstitut. Bei ihren Forschungsreisen und dem Publizieren ihrer Erkenntnisse waren sie völlig frei – autonom im wahrsten Sinne des Wortes. In der Folge entstanden zahlreiche Bücher zu Heilpflanzen, Ayahuasca, Schamanismus und Mythologie sowie kunsthistorische Betrachtungen.

Am 1. Januar 1998 erschien das Buch „Schamanische Wissenschaften“ in der Gelben Reihe Magnum des Eugen Dietrichs Verlages, das er zusammen mit Franz-Theo Gottwald herausgegeben hat. Das Buch enthält auch ein analytisches Kapitel von Claudia Müller-Ebeling mit dem Titel „Schaminische Elemente in der Kunst von Joseph Beuys“ mit Abbildungen. Im Jahr 2009 erschien sein Buch „Meine Begegnungen mit Schamanenpflanzen“ im AT-Verlag und 2012 das Buch „Vom Forscher, der auszog, das Zaubern zu lernen: Meine Erlebnisse bei den Erben der Maya“ im Kosmos Verlag.

Hanf als Heilmittel Bereits vor gut 30 Jahren setzte sich Christian für die Legalisierung für Cannabis als Medizin ein, also lange bevor es ein HanfJournal, einen Deutschen Hanfverband oder eine Hanfparade gab. Im Jahr 1992 veröffentlichte er das Buch „Hanf als Heilmittel – Eine ethnomedizinische Bestandsaufnahme“, das als „Grüner Zweig 154“ als Joint Venture von Werner Pieper‘s MedienXperimente und dem Nachtschatten Verlag erschien. So heißt es im Vorwort: „Die Grundvoraussetzung für eine wissenschaftliche Betrachtung ist die Überwindung von Vorurteilen und ideologisch gebundenen Paradigmen. Der Wissenschaftler muss immer ein offenes Auge bewahren, Neuem gegenüber aufgeschlossen sein und den Mut haben, alte Überzeugungen abzustreifen. Glaubt

man, der Hanf ist ein furchtbares ‚Rauschgift‘, das den Genießer ‚süchtig‘ und asozial macht, wird man kaum zu einem vertieften Verständnis der Rolle dieser ungewöhnlichen Pflanze gelangen. Wenn man mit offenen Augen durch die Welt reist, kann man einfach nicht den Blick vor der überwältigenden Fülle medizinischer Anwendungen der Hanfpflanze verschließen. Wenn man die Medizingeschichte aufmerksam studiert, muss man zwangsläufig erkennen, dass es kaum eine ander Heilpflanze gibt, die eine solche

Verbreitung in den unterschiedlichsten medizinischen Systemen und Lehren hat.“

Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen

Die „Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen“ gilt als das wichtigste Werk von Christian Rätsch. Das Standardwerk zu psychoaktiven Pflanzen zur Botanik, Ethnopharmakologie und Anwendung umfasst knapp 1.000 Seiten und enthält über 800 Farbfotos. In diesem Buch wurden zum ersten Mal überhaupt psychoaktive Pflanzen umfassend und systematisch erfasst. Die Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen erschien bereits in zahlreichen Neuauflagen, wurde immer wieder überarbeitet und aktualisiert und gilt längst als Standardwerk zum Thema.

Seit Mitte des letzten Jahrzehnts arbeitete Christian Rätsch intensiv mit Markus Berger zusammen. Markus Berger ist Chefredakteur des Magazins für psychoaktive Kultur „Lucys Rausch“ sowie Produzent der „Drug Education Agency“ wie auch von „Nachtschatten TV“ – und der Kanal enthält auch schöne Playlist von Christian Rätsch und Claudia Müller-Ebeling. Im Zuge dieser Zusammenarbeit ist eine erste von Markus Berger überarbeitete und revidierte Auflage (14.) der Enzyklopädie 2016 erschienen, im Jahr 2020, mit der 16. Auflage, wurden weitere kleinere Korrekturen von ihm angebracht. Im Jahr 2022 erschien bereits die 17. Auflage.

In der Enzyklopädie werden die Pflanzen in Monografien mit allen relevanten Informationen zu Botanik, Aussehen, Anbaumethoden, Zubereitung und Dosierung, Geschichte, rituellen und medizinischen Verwendungen, Inhaltsstoffen, Wirkungen, Marktformen und allfälligen Vorschriften beschrieben. Ein Großteil der Pflanzen ist im Bild dargestellt. Rätsch untersucht die psychoaktiven Pflanzen stets im Kontext ihrer kulturellen Bedeutung und ist auf dem neuesten Stand der naturwissenschaftlichen und ethnopharmakologischen Forschung.

In den letzten Jahren arbeiteten Christian Rätsch und Markus Berger intensiv gemeinsam an der Erforschung psychoaktiver Pflanzen und Pilze und fassten ihre neuen Erkenntnisse in einem 2. Band „Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen – Band 2“ zusammen. Der Untertitel „Neue Pflanzen, Pilze, Bakterien. Anwendung. Kulturgeschichte“ bedeutet nicht, dass die Autoren gentechnisch in einem Biolabor neue Pflanzen, Pilze und Bakterien entwickelten, sondern nur, dass sie neu von ihnen entdeckt und beschrieben wurden.

In dem Buch werden nicht nur Monografien zu einzelnen psychoaktiven Pflanzen und Pilze präsentiert, sondern auch kulturelle Aspekte beschrieben, wie die einzelnen Kapitelüberschriften zeigen: „Die kulturschaffende Bedeutung psychoaktiver Pflanzen, Produkte und Wirkstoffe“ und „Psychoaktive Pflanzen und Pilze in der darstellenden Kunst“ und „Musik und psychoaktive Pflanzen oder Produkte“ oder auch „Psychoaktive Pflanzen und Pilze in der Literatur“. Bei einer von Roger Liggenstorfer vom Nachtschatten Verlag spontan organisierten Vernissage am 15. September 2022 in Solothurn stellte Christian Rätsch das neue druckfrische Buch vor. Völlig unerwartet verstarb er nur zwei Tage nach der Buchpräsentation 17. September im Seminarhaus Sonnenstrahl in Kißlegg im Allgäu, wo er mit seiner Frau Claudia Müller-Ebeling zur Durchführung eines Seminars mit

dem Titel „Schamanismus – Heilkunst und Weltbild“ reiste.

Die Website von Christian Rätsch ist nach wie vor erreichbar: https://www.christian-raetsch.de/

Ein Beitrag von Hans Cousto

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3 Kommentare
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Haschberg
1 Jahr zuvor

Dieser bedeutende Forscher hat sich durch sein autodidaktes Schaffen auf dem heiklen und sehr umstrittenen Gebiet der Drogenforschung ein bleibendes Erbe für die Nachwelt gesichert.
Schade, dass er nicht in ausreichendem Maße auf seine Magenprobleme geachtet hat und es offensichtlich nicht für nötig hielt, mit kommerzieller oder alternativer Medizin (wie z.B. der oralen Einnahme von potentem Cannabis) dagegen anzukämpfen.

Ramon Dark
1 Jahr zuvor

Er war einer der wichtigsten Wissenschaftler der Neuzeit, der sich wohl mit nahezu allen bewusstseinsverändernden Pflanzen im Rahmen ihrer kulturgeschichtlichen und spirituellen Zusammenhänge auseinandergesetzt und dabei seine wichtigen Forschunserrgebnisse auch noch herausragenderweise durch wohl nicht immer ganz ungefährliche Selbstversuche systematisch präzisiert hat. Viele andere forschende und anwendende Personen haben durch sein Lebenswerk eine umfassende Ausgangsbasis für ihre eigene (Bewusstseins-)arbeit erhalten. Mich wird seine Literatur auch bis ans Lebensende begleiten. Danke für alles, Christian!

Qi San
1 Jahr zuvor

Er ist jetzt an seinem „Haus am See” …