1. Tag (Fortsetzung von Ausgabe 11/08)
15. September 2008.
Meine Augen brennen derweil immer noch wie Feuer. Sie jucken, sind aufgequollen und tränen. Mein Sichtfeld ist durch die Schwellungen eingeschränkt. Mitunter verschwimmen beim Lesen die Buchstaben vor meinen Augen.
Die behandelnden Ärzte haben mir zwar zwei verschiedene Salben zur Anwendung gegeben und raten zu Schwarztee-Kompressen, aber irgendwie wirken sie unsicher und keineswegs wirklich überzeugend auf mich mit ihrer vagen Diagnostik.
Die zuständige Dermatologin hält es für sinnvoll, dass ich so bald als möglich intensive psychologische Beratung in Anspruch nehme, da ich der Medikamenten-Nebenwirkungen wegen gelegentlich an depressiven Verstimmungen leide. Ihrem Gesichtsausdruck entnehme ich allerdings, dass sie die angeratene psychologische Beratung bloß für notwendig erachtet, weil ich mit der fragwürdigen Substanz Cannabis zu tun habe. Es überrascht mich nicht allzu sehr als sie mich fragt, wie dieses Cannabis denn aussehe..? Ob es ein Pulver sei und wie man es appliziere…?
Meine Brust schmerzt. Ich huste, habe chemisch schmeckenden Auswurf, mein Hals tut weh und wenn ich im Bett in fötaler Haltung auf der Seite liege, kann ich meiner Lunge beim Geräuschemachen zuhören. Der Stromfluss und das Kribbeln im linken Arm sind ebenso so unangenehm wie all die langen Wochen zuvor, und nach der mehrfach unnötigen zu Fuß-Durchquerung des Klinikgeländes meldet sich mein rechtes Bein vom Lendenwirbel her ausgehend mit unangenehmen Schmerzen und deutlichen Anzeichen eines unübersehbaren Hinkens. Ich laufe in Zeitlupe.
Ich spüre deutlich wie sehr körperlich geschwächt ich bin und sehne mich nach Ruhe, aber Erholung will sich nicht einstellen. Meine Schlafstörungen fangen an sich in chronischer Erschöpfung niederzuschlagen. Ab und an streift mich ein heftiger Anflug von Kopfweh, wenn ich – etwa auf der Suche nach bestimmten Behandlungsräumen – unter Stress oder Zeitnot gerate und trotz physischer Eingeschränktheit schneller als gewohnt gehen muss, um ja nicht unpünktlich oder unzuverlässig zu erscheinen.
In den Anamnese-Gesprächen mit den Docs oder mit dem Krankenhauspersonal habe ich Mühe mich zu konzentrieren. Oft breche ich einen halb ausgesprochenen Gedanken einfach ab und frage mich, was das alles noch soll. Argumentativ bin ich kaum noch in der Lage auf medizinische Spezifikationen um die tatsächlichen oder vermeintlichen Auswirkungen von legalen und illegalen Drogen, Krankheiten, Medikamenten, Kreuzreaktionen und/oder Umweltfaktoren einzugehen. Mental scheine ich zu übel ramponiert zu sein, um mich wie gewohnt überzeugend rechtfertigen zu können.
Deutlichstes Anzeichen dieser Ramponiertheit: Seit meiner Ankunft habe ich bisher eine einzige Zigarette geraucht. 95 % Tabak – 5 % Cannabis. Mit relativ schlechtem Gewissen, obgleich ich beim Anamnesegespräch um die Selbsttherapie keinen Hehl gemacht – und trotz meiner Angeschlagenheit so gut als möglich erklärt habe, um was es mir mit und bei der medizinischen Verwendung von Cannabis geht. Vielleicht fühle ich mich bloß so mies, weil mir die gewohnte Nikotinzufuhr fehlt? Vielleicht liegt`s am inzwischen abgesetzten Interferon? An der plötzlichen Änderung des sozialen Umfeldes – weg von der vertrauten Wohnung zum fremdbestimmten Aufenthalt im Krankenhaus? An den Ängsten vor dem, was noch alles nachkommen kann, falls keine wirkliche Besserung des angeschlagenen Gesamtzustands eintritt?
Es ist ein ziemlicher Irrlauf, den ich betreibe, um wieder einigermaßen auf den Damm zu kommen. Und es scheint ein laufender Irrsinn zu sein, was um mich herum alles passieren muss, damit ich schnellstmöglich und kostengünstig gesund werden – und meinen steuerlichen Verpflichtungen nachkommen kann.
Es ist 22, 15 Uhr am 15. September 2008. Ein paar Zimmer weiter schreit sich seit einer halben Stunde ein Baby seine Lunge aus dem Leib. Ich wollte, ich könnte es mir auch so einfach machen..