Donnerstag, 3. Dezember 2020

Der Mensch ist des Menschen Wolf oder im Grunde gut?

Betrachtungen einer neuen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik

Von Amandara M. Schulzke

Wer die Macht hat, hat das Geld und wer das Geld hat, hat die Macht. Rücksichtslosigkeit, Gier und Egoismus regieren unsere Weltwirtschaft. Ständiges Wachstum ist angesagt, gleichgültig, auf welche Kosten. Die Klimakrise, die Zerstörung des natürlichen Lebensraumes, das Artensterben sind Ausdruck eines völlig unverantwortlichen Umgangs mit unserer Erde und den darauf lebenden Pflanzen, Tieren und letztendlich mit uns selbst als Gattung. Oder sind wir als Menschen „im Grunde gut“ und nur fehlgeleitet? Bilder aus der Geschichte von unzähligen Kriegen, Folter, Mord und Konzentrationslagern im II. Weltkrieg sprechen eine eigene Sprache. 

Die Unfähigkeit der EU, Verantwortung für das Flüchtlingslager in Moria zu übernehmen und das menschenverachtende Sterbenlassen von Flüchtlingen auf dem Meertreiben aktuell die Schamesröte in das Gesicht von Demokraten und Idealisten. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Corona hauptsächlich die Alten und Kranken hinwegrafft. Und die Jungen und Gesunden? Sie sind solidarisch, halten sich an die Regeln und reduzieren ihre direkten Kontakte. Bis auf Ausnahmen. Diese schreien umso lauter.

Der niederländische Aktivist Rutger Bregmann hat im letzten Jahr ein international viel beachtetes Buch geschrieben. In diesem Jahr schaffte es „Im Grunde gut – eine neue Geschichte der Menschheit“ als Sachbuch sogar auf die Spiegel-Bestsellerliste. Allein der Titel verführte viele Leser zum Kauf und Lesen. In unserer Wohlstandsgesellschaft mit einem Bildungsgrad so hoch wie nie, ist das Bedürfnis einer breiten Bevölkerungsschicht umso größer, gut zu handeln, um sich gut zu fühlen. Bregmann geht den Theorien und Glaubenssätzen nach, die den Menschen als zuallererst egoistisch und kriegerisch darstellen. Der Mensch ist des Menschen Wolf – wie der britische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) meinte. In seinem Hauptwerk „Leviathan“ plädierte er für einen starken, souveränen König, da ansonsten der Krieg aller gegen alle beginnen würde. 

Bregmann unterdessen fand heraus, dass die Urmenschen überlebten, die das Soziale als höchste Instanz ansahen – die Jäger und Sammler. Er nennt diesen Menschen den Homo puppy, den freundlichen Menschen, dem das Gemeinwohl am Herzen liegt. Damit folgt er der Gesellschaftstheorie Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778). Dieser postulierte im 18. Jahrhundert: „Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben; […] Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.“ (Aus: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (Reclam, 1998) Rousseau machte die Zivilisation dafür verantwortlich, dass der Mensch nicht seiner wahren friedliebenden Natur folgen kann. 

Der niederländische Historiker und Aktivist Bregmann fragte sich, warum die Menschen sich selbst als negativ betrachten und eher dem Hobbe’schen Bild zustimmen. Als Beispiel nahm er den Hurrikan Katrina, der vor allem 2005 in New Orleans wütete und 1836 Menschen das Leben kostete. Die Medien berichteten über Morde, Grausamkeiten, Plünderungen und unhaltbare Zustände in dem Stadion, das 15.000 Menschen als Notunterkunft diente. Vor der Stadt warteten 72.000 Soldaten, um der Anarchie Herr zu werden. Später stellte sich heraus, dass die Menschen in Wahrheit aufeinander achtgegeben hatten, dass sie sich gegenseitig unterstützten und Schwachen halfen. Das passte jedoch nicht in das publizistische Selbstverständnis: Only a bad News is a good News. Bregmann nennt die Konzentration der Medien auf das Negative im Menschen Fassadentheorie.

Kooperation statt Konkurrenz

Nachrichten schaden der geistigen Gesundheit. Das beweisen zahlreiche Studien. Bregmann bezeichnet die Medien mit ihrer Konzentration auf das Negative, oder wie bei der sogenannten Regenbogenpresse, auf das Belanglose als stärkstes Suchtmittel unserer Zeit. Die Konsumenten finden langweilig, wenn wieder etwas gerettet wurde, wenn die Kindersterblichkeit weltweit sinkt, so wenig kriegerische Auseinandersetzungen geschehen wie nie zuvor. 

Wer sich für den Menschen einsetzt, tritt auch gegen die Mächtigen der Erde an. Für sie ist ein hoffnungsvolles Menschenbild rundherum bedrohlich. Staatsgefährdend. … Schließlich bedeutet es immer, dass wir keine egoistischen Tiere sind, die von oben herab kontrolliert, reguliert und dressiert werden müssen“, so Bregmann. Für Aufruhr sorgte er 2019 auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos mit seiner Wutrede, als er forderte, nicht über ein philanthropisches Menschenbild und Wohltätigkeit nachzudenken, sondern über Steuern zu reden. Alles andere wäre Schwachsinn. Er griff die 1500 Reichsten der Reichen direkt an, kritisierte ihre Steuervermeidung und dass sie verweigern, einen fairen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.

Damit eng zusammenhängt, dass sich das Geld von seinem Wert getrennt hat. Ursprünglich war es nur ein Tauschmittel, das als Zwischenlösung diente. Wenn tausche Salz gegen Reis nicht möglich war, tauschten unsere Vorfahren Salz gegen Muscheln oder Schneckengehäuse und umgekehrt. Getauscht wurden Naturalien, Schmuckstücke, Nutzvieh und Gebrauchsgegenstände. Zwischen 600 und 650 v. Chr. entstand das erste Münzgeld in Lydien – Kleinasien, zuerst nur als Metallbrocken. Bildliche Darstellungen entstanden ab 600 v. Chr. unter anderem im antiken Griechenland. Kurantmünze nennt sich eine Münze, deren Wert dem verwendeten Metall entspricht. Übrigens florierte das Münzfälschergewerbe ab der Einführung der Münzen als allgemeingültiges Zahlungsmittel. Sie verwendeten oft minderwertiges Blei, um Silber nachzuahmen. 

Ab der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. gab es die ersten Scheidemünzen aus Bronze, deren Nominalwert höher als der Metallwert war. Begann zu diesem Zeitpunkt der Beschiss, der bis in unsere heutige Zeit solche Ausmaße angenommen hat, dass sich ein normalsterblicher Bürger keine Vorstellungen darüber machen kann, wie das Geldsystem in einer international verflochtenen Welt des Industriekapitalismus funktioniert? Die Perversionen von Zins und Zinseszins setzten dem anfänglichen Umgang mit Münzgeld, Wechseln und Schuldverschreibungen die Krone auf. Ab dem 16. Jahrhundert entwickelte sich die Börse als Treffpunkt von Händlern. Heutzutage dient Börse oft als Begriff für den Handel mit Aktien und Wertpapieren.

Gemeinwohl vor Profitmaximierung

In unserer Wirtschaftsordnung werden Mittel und Zweck auf unheilvolle Art vertauscht: Geld, das als Tauschwert nur ein Mittel sein sollte, ist zum Zweck des Wirtschaftens geworden. Und der arbeitende Mensch bloßes Mittel. Doch ebendieser lebt nicht von Tauschwerten, sondern einzig und allein von Nutzwerten. Sie müssten das eigentliche Ziel des Wirtschaftens sein. Dies erklärt der Politikwissenschaftler, Psychologe und Soziologe Christian Felber aus Österreich. Er gilt als einer der stärksten Globalisierungskritiker und entwickelte die Gemeinwohlökonomie. 

Nach ihm beruht sie auf denselben Verfassungs- und Grundwerten, die unsere Beziehungen gelingen lassen: Vertrauensbildung, Wertschätzung, Kooperation, Solidarität und Teilen und ist einerseits eine vollethische Marktwirtschaft und zum anderen eine liberale Marktwirtschaft. Die gleichnamige Bewegung arbeitet heute in über 20 Staaten Europas, Lateinamerikas und Afrikas.

„Alle wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“, heißt es zum Beispiel in der Verfassung des Freistaates Bayern. Statt finanziellem Gewinn muss die Mehrung des Gemeinwohls das oberste Ziel aller wirtschaftlichen Aktivität bilden, fordert Felber. Er schlägt vor, dass die Gemeinwohlbilanz die Finanzbilanz ablöst. Zum Beispiel Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und Demokratie. Er plädiert für demokratische Banken, die Geld als öffentliches Gut verwalten und für die Abschaffung des Zinssystems. 

Momentan steht ein weiteres Buch auf der Spiegel-Bestsellerliste: „Unsere Welt neu denken“ von der Politökonomin, Transformationsforscherin, Beraterin für Nachhaltigkeit und Generalsekretärin des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) Professorin Maja Göpel. Sie ist designierte Direktorin der 2020 in Hamburg gegründeten Denkfabrik The New Institute. „Ein mitreißender Entwurf für radikale Reformen zur Rettung des Planeten“, urteilt Andreas Bochers in EMMA am 30. April 2020.

Genau dies brauchen wir als Gesellschaft: radikale Reformen und ein neues Menschenbild. Zusammenarbeit statt Konkurrenz.

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3 Kommentare
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DIE HANFINITIATIVE
3 Jahre zuvor

Sehr schöne und tiefhineinschauende Analyse. 😀 Hat mir gefallen zu lesen. 🙂 Ich liebe Menschen die Menschen lieben! 😀 😀 😀 Perspektivwechsel: Wie wichig sind die Umstände für uns – als aufrecht gehende “Säugetiere” – also ich meine die prä- peri- und postnatalen Erfahrungen? – also unsere geburtlichen und vorgeburtlichen – tief im unbewussten, ursprünglichen verankerten Erfahrungen – die Kontakte mit den Stoffen der Welt (über die und mit), den Bio-psychischen-Systemen der “Mutter” Natur? Der Großen und der Kleinen? 🙂 Eine Frau, die mich und meine Ansichten (über die Menschen) sehr geprägt hat: […] Jean Liedloff Zur Navigation springen Zur Suche springen Jean Liedloff (* 26. November 1926 in New York; † 15. März 2011 in Sausalito) war eine US-amerikanische… Weiterlesen »

gein
3 Jahre zuvor

schöner Text, merk ihn dir wenn du wählen gehst.

Otto Normal
3 Jahre zuvor

“Edel sei der Mensch, hilfreich und gut” (Goethe)