Samstag, 14. April 2018

Zwille is back in Berlin

 

Gerhard Seyfrieds „Zwille“ knüpft an alte Zeiten an, kann diese aber nicht mehr ganz erreichen

 

 

Gerhard Seyfried gehört schon so lange zur alternativen hanfophilen Szene, dass er beinahe eine Legende ist. Und seine Kultfigur Zwille hat vermutlich mehr gekifft, als die gesamte Führungsriege der Grünen zusammen. Jetzt, zu seinem 70. Geburtstag, hat Seyfried nach über 20 Jahren Abstinenz endlich wieder einen Comicband über die seit langem Kultstatus erreicht habende Comicfigur Zwille vorgelegt. Der Untertitel des im Fifty/Fifty-Verlags (in Kooperation mit Westend – gehört inzwischen zum Buchmarktriesen Randomhouse!) erschienen Comics „Zwille“ ist vielsagend: „The Law returns to Kreuzberg“. Denn genau um diesen Themenkomplex geht es in erster Linie in dem Comic. Also die mit Riesenschritten fortschreitende Gentrifizierung derjenigen Berliner Stadtteile, die bisher eher als Ausbünde der Anarchoszene, des linksliberalen Vigilantentums und als bullenfreie Zonen galten.

 

Berlin-Kreuzberg erlangte in diesem Sinne jahrzehntelang traurigen Kultstatus bezüglich der brutal-zerstörerischen Autonomen-, Anarcho- und Antiimps-Krawalle, die den 1. Mai-Demonstrationen so sicher folgten, wie das berühmt-berüchtigte Amen in der Kirche. Doch damit ist jetzt Schluss – zumindest im Comic. Denn auch Kreuzberg wird „aufgeräumt“, Spekulanten stehen in den Startlöchern und überall sprießen global agierende Verkaufsketten für Kleidung und Futter sowie hippe, individuelle Läden aus dem Boden wie Pilze nach heftigen Regenschauern im dämpfigen Waldgebiet. Die Gentrifizierung macht also leider auch vor dem Kiez Kreuzberg nicht halt, doch auf dem Cover steht bereits die diesbezügliche Antwort: Die Kultfigur Zwille in Jeanslatzhose mit seinem allseits bekannten Anarcho-Vollbart und mehr Lametta und Polizeisternabzeichen an der Brust als es der Berliner Polizeipräsident je in seiner Amtszeit zu sammeln in der Lage wäre. Solange das Gesetz so „zwillemäßig“ aussieht, muss einem auch um Berlin-Kreuzberg nicht angst und bange sein, zumal Zwille ein energetisch aufgeladenes „Schnorch“ von sich gibt.

 

Zum Inhalt: Die Comicfigur Zwille hat nun seit Ewigkeiten keinen Job mehr in einem Comic gefunden und lebt mit seinem Kumpel McÖko im letzten besetzten Haus in Berlin-Kreuzberg, das ja wie gesagt inzwischen beinahe vollständig gentrifiziert ist. Doch, wie sollte es anders sein, die Bullen räumen natürlich auch noch dieses letzte Haus, den letzten selbstbestimmten und selbstorganisierten Flecken in Berlin, um den maximalen Profit der Spekulanten, Heuschrecken und Aktionäre zu sichern. Auf der anderen Seite sucht der Comic-Zeichner Seyfried, der in Italien den letzten unabhängigen Comic-Verlag namens „Fumetti Seyfretti“ führt, verzweifelt eine Hauptfigur für seinen neuen Comic. Also, wieso nicht auf Altbewährtes, also Zwille zurückgreifen, der zuletzt vor 20 Jahren eine Hauptrolle in Seyfrieds Comics gespielt hat? Doch so einfach funktionieren die Dinge in den Zeiten der Heuschrecken- und des Turbo-Kapitalismus nun auch wieder nicht, dieser Realismus hat sogar im Genre Comic Einzug gehalten. Denn die GNA, die 99% des Comicmarktes beherrschende Graphic Novel Authority, möchte dies verhindern und Zwille für eigene Projekte einspannen, die letztlich lediglich auf Werbung und Profitmaximierung hinauslaufen.

 

Naiv, ahnungslos und gutmütig geben sich Zwille und McÖko für das Projekt her, damit sie zumindest ein wenig Geld zum Überleben und vor allem für Bier und Cannabis haben. Doch sie ahnen ja keineswegs, dass ihre Gesichter und Persönlichkeiten lediglich für billige Propaganda- und Werbefilme der GNA missbraucht werden sollen, sonst hätten sie sich für den Teufelsdeal nie hergegeben. Die GNA unterstützt zudem den an einen Fleischklops erinnernden Senator Schmarotzke, der im Wahlkampf und sonst wo die Gentrifizierung Berlins als eine Wohltat für ganz Berlin verkauft, sich dabei aber in allererster Linie die eigenen Taschen vollstopft. Damit beginnt ein spannendes Abenteuer, in dem Gerhard Seyfried mit gewohnt bissigem Humor die aktuelle soziopolitische Realität Berlins auf den Arm nimmt.

Die Bewertung von Seyfrieds „Zwille“ fällt nicht ganz einfach. Zum einen ist es mehr als zu begrüßen, dass nach über 20 Jahren endlich wieder ein Comic mit der Kultfigur, dem fanatischen Polizeisternsammler Zwille, erschienen ist. Wer allerdings die früheren Zwille-Comics kennt, angefangen von dem sensationell und nie mehr erreichten Band „Wo soll das alles enden?“ bis hin zu „Flucht aus Berlin“, der kommt nicht umhin, einen Qualitätsabfall und Qualitätsrückgang zu konstatieren. Es fehlen die frischen, abgefahren-spacigen Ideen, die sonst immer die Zwille-Comics auszeichnen. Aber auch der neue „Zwille“ enthält jede Menge Jokes und Anspielungen, die den Leser nicht nur nach dem Genuss von THC-haltigem herzhaft lachen lassen. Ob nun die spießig-piefigen Käffer Potsdam und Wannsee aufs Korn genommen werden, ob die drohende Monopolisierung des Comicmarktes durch Giganten à la Marvel’s Comic (hier: GNA als Graphic Novel Authority) persifliert wird oder die Wandlung der Kieze hin zu hochglanzpolierten Vierteln, die nur auf den Einzug der neuen Yuppies warten, um damit ihre Gelddruckmaschinen in Gang zu setzen – das alles ist äußerst unterhaltsam und witzig. Natürlich wird in „Zwille“ auch tüchtig einer durchgezogen, denn Cannabis darf bei Seyfried nie zu kurz kommen, auch wenn der Autor bereits die 70 überschritten hat. Sehr witzig ist auch die Szene als Zwille und McÖko es sich in einer Villa bequem machen, die dortigen, immensen Biervorräte vernichten und Zwille auf McÖkos eher bedauernde Bemerkung, dass kein Bier mehr da sei, ziemlich besoffen „Gozeidank“ antwortet.

 

Es ist wohl müßig darüber zu streiten, ob Seyfried den alten politischen Biss früherer Comics besitzt, ob der Zwille-Running-Gag des Polizeisterne-Sammelns heute noch überhaupt aktuell ist oder ob die narzisstische Selbstreferentialität, die Seyfried seit geraumer Zeit eine Hauptrolle in seinen eigenen Comics beschert, notwendig ist. Aber nach über 20 Jahren Abstinenz ist es mehr als wohltuend von Seyfried einen neuen Zwille-Comic in der Hand zu halten. Und Seyfried hat einen klaren Blick für die soziopolitischen Schieflagen der Hauptstadt beibehalten. Er erkennt klar, wo soziale Ungerechtigkeit auf Kosten der Armen und der sozialen Vielfalt und Gerechtigkeit entsteht. Dass er den Finger in diese Wunde legt, ohne dabei über die Gebühr zu moralisieren und zugleich auch liebevoll und fürsorglich die Eigenheiten und Defizite der sozial Unterdrückten wie Zwille und McÖko nicht verschweigt, das alles zeichnet das allumfassende Gesellschafts- und Biotop-Panorama von Seyfried aus.

 

Die Story an sich lahmt leider mitunter, sodass auch aller THC-Konsum vor oder während des Lesens nix hilft. Hier hat Seyfried meines Erachtens den alten Biss der ganz frühen Tage ein wenig verloren. Das tut dem positiven Gesamteindruck von „Zwille“ aber keinen Abbruch, zumal der Wortwitz an beinahe an allen Stellen nach wie vor besticht.

Fazit: Absolut lesenswert und nicht nur für Seyfried- und Zwille-Fans ein Muss! Unbedingt lesen.

 

Christian Rausch

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