Samstag, 18. November 2017

Christof Wackernagels Buch „Selbstentführung“

Buchtipp

 

Joints, RAF und Afrika!

 

 

Vom High-Sein, von der Kunst und Entwicklungshilfe

 

Es gibt Leben, die lassen sich am besten mit einem Film vergleichen. Das Leben des in Ulm geborenen Schauspielers, Musikers, Schriftstellers und Revolutionärs Christof Wackernagel gehört sicherlich zu diesen Ausnahmeerscheinungen. Wackernagel gehört zur Nachkriegsgeneration (*1951), stammt aus einem ambitioniert-künstlerisch inspirierten Elternhaus, besuchte in München das Gymnasium und wurde ab 1967 Mitglied der Stuttgarter Medienkommune „Produktionsgemeinschaft Schrift, Ton und Bild”. Dann kamen etliche Angebote vom Film.

 

Seine erste Hauptrolle hat Wackernagel in „Tätowierung” gespielt. Was folgte, waren viele weitere Rollen in Serien und Fernsehproduktionen. Aber dann kam der radikale Bruch. Denn 1977 schloss er sich der Roten Armee Fraktion an – just als die RAF an den deutschen Staat und den Ex-Wehrmachtsoffizier und Bundeskanzler Helmut Schmidt die Machtfrage stellte. Doch das Leben als Revolutionär war nur von kurzer Dauer. Wackernagel und sein Freund Gert Schneider erledigten in Amsterdam Aufträge für die RAF und wollten die Stadt mit dem letzten Zug verlassen. Doch der Dope-Dealer hatte Verspätung und die deutschen Zielfahnder und die niederländische Polizei schlugen zu. Wackernagel und Schneider wurden verhaftet – nach einem Schusswechsel und einer gezündeten Handgranate. 1980 wurde Wackernagel in Amsterdam zu 15 Jahren Haft verurteilt, aber bereits vorzeitig begnadigt, nachdem er sich von der bewaffneten Politik der RAF im Knast losgesagt hatte.

 

Und dann ging es von vorne los. Er wurde wieder als Schauspieler gebucht und unvergessen wird uns allen die Szene aus „Lammbock“ bleiben, in der er den kiffenden Polizisten spielt, der den Rauch des Joints rekordverdächtig lange in der Lunge behält. Dem Vernehmen nach hat es sich dabei um einen echten Monster-Joint gehandelt. Zur Schauspielerei kam die Schriftstellerei hinzu und 1992 wurde Wackernagel mit dem „Alfred-Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur“ ausgezeichnet. Schließlich folgte noch Afrika, wo er die „Verbrechen“ der deutschen Entwicklungshilfe kennen- und radikal ablehnen lernte. Nachdem er zehn Jahre in Mali verbrachte und dann vor den einrückenden islamistischen Glaubenskriegern fliehen musste, lebt der Schauspieler, Autor und Künstler heute mit seinem Sohn Peter in Ottobrunn bei München.

 

Sicherlich ist dies ein recht langer Vorspann für eine Rezension. Aber von all diesen Themen handelt Wackernagels Buch „Selbstentführung“, das als ein Genre-Mix von Autobiografie, Kunstreflexion und Gesellschaftskritik gesehen werden kann. Natürlich spielen auch Drogen und Sex eine entscheidende Rolle, denn die beiden Freunde Christof und Ebby haben sich auf ihrer Fahrt von Europa nach Afrika jede Menge zu erzählen. Mit einem übervoll beladenen Lkw fahren die alten Freunde Christof und Ebby nach Afrika, Bamako in Mali, um genau zu sein. Auf dem Weg dorthin gibt es unglaublich viel zu erzählen: von Krautrock, Frauen, Kunst, Entwicklungspolitik und natürlich: der RAF. Ständig begleitet der Rauch eines glühenden Joints die Freunde und versetzt sie in rauschhafte, nahezu ekstatische Zustände, die sich in der lebhaften Unterhaltung widerspiegeln. Die RAF spielt dabei immer wieder eine entscheidende Rolle, da sie ja Christofs Leben, trotz einer Zugehörigkeit von lediglich zwei Monaten zur Kommandoebene, maßgeblich geprägt hat.

 

Christof erinnert sich während der Fahrt ganz genau: Nach beinahe exakt zwei Monaten Mitgliedschaft in der RAF sitzt er mit seinem Genossen und Freund Gert in einer Amsterdamer Telefonzelle fest. Die niederländische Polizei schießt, sie schießen zurück und eine Handgranate geht hoch, zum Glück stirbt keiner, aber der Preis ist trotzdem extrem hoch, denn er lautet: zehn Jahre Knast. Und es zeichnet „Selbstentführung“ aus, dass das Buch zu keiner autobiografischen Selbstbeweihräucherung wird à la: wir von der revolutionären Truppe haben alles richtig gemacht, denn die Ideale der Stadtguerilla von damals teilt Christof schon lange nicht mehr, aber er bereut gleichermaßen auch nichts. Wer einen Kotau vor den Herrschenden und den herrschenden Verhältnissen erwartet, der wird bitter enttäuscht, denn Christof bereut nichts. Und es war gerade diese Form der Verbindlichkeit, die er bei der RAF besonders geschätzt hat.

 

Auch bei der Entwicklungshilfe in Sachen Afrika würde Christof sich ein solch hohes Maß an Verbindlichkeit sehr wünschen. Die vorherrschende Entwicklungspolitik der sogenannten Industrienationen ist entwürdigend und schafft bei den afrikanischen Menschen durchaus traumatisierende Wunden, ja sie wird sogar in „Selbstentführung“ als eigentliches Verbrechen gebrandmarkt. Die Logik der europäischen und amerikanischen Entwicklungspolitik basiert nämlich nach Christofs Logik vor allem darauf, die Abhängigkeit der Afrikaner gerade eben durch die zynisch als „Entwicklungspolitik“ etikettierte Hilfsformen zu vertiefen und zu zementieren.

 

„Selbstentführung“ ist ein spannendes Zeitdokument, das den Leser mit auf einen unvergleichlichen Gedanken- und Roadtrip mit zwei faszinierenden Charakteren nimmt und gleichzeitig ein wichtiges geschichtliches Dokument über Nachkriegsdeutschland darstellt. Sowohl die Ideen als auch die Protagonisten sind fesselnd und helfen dem Leser, seinen eigenen Standpunkt in zentralen Fragen zu eruieren. Und wer Kiffen liebt, wird auch dieses Buch lieben, denn bei beinahe jedem neuen Gespräch zünden sich Ebby und Christof einen neuen, fetten Joint an. Wenn das nicht Laune macht. Mit gesunder Selbstkritik und reifem Humor blickt Christof auf einen überreichen Fundus an Abenteuern zurück: als Guerillakämpfer, Schauspieler und Weltenbummler. Nur manchmal scheint ein wenig Selbstverliebtheit durch, so zum Beispiel wenn Christof in „Selbstentführung“ sinniert, dass sein Genosse Gert und er in Amsterdam die einzigen waren, die eine Handgranate gezündet haben, obwohl einige Mitglieder der RAF-Kommandoebene eine solche bei ihrer Verhaftung bei sich gehabt hätten. Der Seitenhieb gilt wohl insbesondere dem Rechtsanwalt und zeitweiligen (von Andreas Baader aus dem Knast heraus wohl instruierten, C.R.) RAF-Leader Siegfried Haag, der zwar immer das große Wort geführt, dem aber nicht die entsprechenden Taten habe folgen lassen.

 

„Selbstentführung“ ist ein grandioses Panoptikum an Lese- und Lebensfreude und sei an dieser Stelle ausdrücklich zur Lektüre empfohlen.

 

Christian Rausch

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