digital hardcore recordings
„Achtung, Achtung, hier spricht Atari Teenage Riot! Wir haben uns verbündet und wir werden über den Rasen zum Bundestag marschieren. Einem Bundestag, der nicht mehr das Volk vertritt, sondern die Konzerne. Und wir werden sagen: Hände hoch! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus. Verbrennen Sie Ihre Ausweise. Sie sind verhaftet!“ ATR waren immer eine Parolenband und hatten bereits in ihrem Gründungsjahr 1992 den Punkrock auf erfrischende Weise elektrifiziert. Ihre „Hetzjagd auf Nazis“ hörte ich damals erstmals im Club, und auch heute noch geht der neunte Schuss sauber durch die Stirn. Elf Jahre nach dem Split blasen Mastermind Alec Empire und Frontfrau Nic Endo mit ihrem Album „Is This Hyperreal?“ erneut zum Angriff aufs Establishment und die Polit-Fraggles.
Zusammen mit MC CX Kidtronik hat sich gleich der Opener „Activate!“ der darin angelegten Irritation, Verstörung und Aufrüttelung verschrieben. „Blood In My Eyes“ handelt von Menschenhandel und Zwangsprostitution und verschreckt die schwirrenden Synthesizer mit Geschrei, Laserfeuer und Stalinorgel. In „Black Flags“ geht’s um Klassenkrieg und Korruption, während der digitalisierten Gesellschaft in „Digital Decay“ düstere Aussichten prophezeit werden. Auch in explizit politischen Tracks wie „Shadow Identity“, „The Only Slight Glimmer Of Hope“ und „Collapse Of History“ treffen Industrial-Patterns auf Gitarrenriff-Distortions und brummende Analogbässe.
Hier werden revolutionäre Ideale gelebt, und es bollert wieder hardcore wie auf dem Kindergeburtstag von einst.
The Empire strikes back – mit unvergleichlicher Energie und rebellischer Aussagekraft.
www.atari-teenage-riot.com
www.digitalhardcore.com
Various: Beat Power
augenringe unter dem dritten auge
Was tut am besten gegen Augenringe? Man fragt seinen Arzt oder Apotheker oder geniesst ganz einfach die neue Doppel-CD-Compilation „Beat Power“ auf dem Label des Kölner Produzenten Twit One, welches auf den amüsanten Namen „Augenringe Unter Dem Dritten Auge“ (A.U.D.D.A.) hört. Dieser hat nun 31 exklusive, instrumentale Tracks und 5 Skits aus der Beat-Szene zusammengestellt. Für seine Gästeliste trennte der Kölner die Spreu vom Weizen und pickte sich vor allem die besten Beats aus Köln und Berlin. Mit Künstlern wie DJ Adlib, V.Raeter, Hulk Hodn, Suff Daddy, Dexter, Retrogott und Sylabil Spill ist hier ausschliesslich die obere Liga deutscher Produzenten vertreten. Dazu gesellen sich u.a. Fella Vaughn aus Bielefeld mit seinem lieblichen Intro „Jailbait“, der Kölner Rapper und Produzent Epoz mit seinem „Mandarin“-Glockenspiel, Brous One aus Chile mit dem angejazzten „Still Time 4 You“, Memyselfandi mit seinem klassisch angehauchten „Beautiful Hustle“, Niko Soprano mit dem oldschooligen „What More Can I Say“, der Münchener Erroll Barnes mit seinem gemütlichen „Bentley Bump Musiq“, Illoyal mit dem energievollen „Joel“, der Salzburger Feux mit seinem angeheiterten „Casper“ sowie der Heilbronner Plastic Surgeon mit dem bluesigen „Hudson“, die allesamt überaus respektable Beats abliefern, welche stumpfes Hintergrundgebastel klar übersteigen. Meine Lieblingsstracks sind das verträumte „Poolboy“ von Noyland, das stimmungsgeladene „Acid El Cielo“ von Lazy Jones und Dexter’s orchestrales „Does Damage“. In Zusammenarbeit mit Melting Pot Music ist diese „Beat Power“ hier ein ganz dickes Ding geworden.
www.audda.blogspot.com
www.mpmsite.com
Pete Rock & Smif-N-Wessun: Monumental
duck down
Duck Down Records feiert seinen 15. Geburtstag und schickt dafür einige Releases ins Rennen, von denen ich nun eines näher beleuchten möchte. Denn wenn sich einer der legendärsten Produzenten der HipHop-Geschichte mit einem der sagenumwobendsten Emcee-Duos des Big Apple zusammentut, um ein gemeinsames Album aufzunehmen, ist das im wahrsten Sinne des Wortes „Monumental“. Peter „Pete Rock“ Phillips, der zuletzt mit Kanye West, Method Man & Redman und Lady Gaga an neuen Tracks gearbeitet hat, zeichnet sich dabei für die gesamte Produktion verantwortlich und greift hier und da auch selbst zum Mic, wie beispielsweise beim Titeltrack. Das renommierte Brooklyner HipHop-Duo Smif-N-Wessun, bestehend aus Tek & Steele und seit vielen Jahren fester Bestandteil der Boot Camp Clik, liefert die Raps dazu. Neben den obligatorischen Gastauftritten von anderen Mitgliedern des Camps wie Buckshot, Rock und Sean Price sind auf dem Album u.a. Raekwon, Styles P und Freeway vertreten. Die Video-Single „That’s Hard“ lebt von Pete’s Kombination aus harter Snare und Streichern, und „Roses“ mit dem Voice-Sample und Freeway in der Hook gefällt mir ebenso wie „Fire“, das ragga-lastige „This One“, das reduzierte „Night Time“ und das klassische „Time To Say“. Mit Random Axe gibt’s noch ein weiteres spannendes Kollaboprojekt auf Duck Down, das kürzlich ein selbstbetiteltes Album aufgenommen hat – das lang erwartete Gipfeltreffen der Ausnahmerapper Sean Price (Duck Down) & Guilty Simpson (Stones Throw) und dem beliebten Detroiter Produzenten (und MC) Black Milk (Fat Beats / Decon). HipHop wie ich ihn sehr gerne mag.
www.myspace.com/smifnwessun
www.duckdown.com
Gappy Ranks: Thanks & Praise
hot coffee music / vp records
Sein Vater ist Jamaikaner, seine Mutter Dominikanerin. Jacob Lee Williams, besser bekannt als Gappy Ranks, beschreibt diese gute Kombination „like Rice & Peas“. Im Londoner Stadtteil Harleden geboren und aufgewachsen, liess er sich u.a. von Bob Marley, Alton Ellis oder Gregory Isaacs inspirieren und arbeitete bereits mit Künstlern wie Kray Twinz, Twista oder MC Lethal B zusammen, um sich mit seinem 2010 veröffentlichten Debüt-Album „Put The Stereo On“ als wahrer Geschmackskünstler in Sachen Dancehall und Rocksteady zu beweisen. Nun beglückt uns der aktuell erfolgreichste britische Reggae & Dancehall Artist mit seinem zweiten Album „Thanks & Praise“, auf dem eine Crew internationaler Top-Produzenten für modernen Sound sorgt. Nach dem bereits bewährten Titelsong und dem nostalgischen „Longtime“ setzt er mit romantischen Songs wie „Sweet Love“ und „Girl Next Door“ auch weiterhin auf stilistische Vielfalt, bevor er mit der aktuellen Single „Tun Up“ feat. Russian leicht ironisch der monetären Gesellschaft eine gelungene Absage im Dancehall Style erteilt. Klartext wird auch bei „Fresh Kicks“ und „English Money“ geredet, der Tune „Peace & Joy“ wurde inzwischen mit einem gelungenen Video ausgestattet und unterstreicht Gappys passionierten und ehrlichen Umgang mit der Musik. Gemeinsam mit Delly Ranx liefert er das autobiographische „Could A Runaway“, und am Ende unterstreicht er mit dem zuversichtlichen „Better Must Come“ sein positives Gemüt. Mein Lieblingstrack bleibt allerdings das so dynamische „Stinkin Rich“, und wer keine Allergie gegen den Autotune-Effekt hat, wird an diesem Album viel Freude haben.
www.myspace.com/gappyranks
www.greensleeves.net
Keule: Schnauze
styleheads music
Vorne weg: Ich weiss immer noch nicht, ob ich dieses Album lustig oder bescheuert finde, also erstmal „Schnauze“. Ex-Rapper Sera Finale (bekannt durch mehrere Formationen und dem HipHop-Film „Status Yo!) hat sich mit Claus Capek, Ex-Mitglied der quietschbunten Kinderpop-Versenkung „Band ohne Namen“, zusammengetan und ihr gemeinsames Projekt Keule lebt in erster Linie von den beiden Protagonisten und ihren Gegensätzen.
„Sera, brachialer Charmebolzen und XXL-Poet trifft auf den schräg-bunten Musikvogel Claus, Sprachgenie auf ständig sprudelnden Melodien-Quell, Größenwahn auf großen Appetit, dick auf dünn, groß auf klein, etc.“, heisst es im Pressetext.
Und so gibt es hier 15 bunte Songs, bei denen man sich fragt, ob Keule schmerzfreie Grossraum-Prolls, geschmacklich verirrte Pop-Genies oder hochintelligente Sprachartisten sind.
Nach dem Opener „Dolly“ und der Single-Auskopplung „Hallo Jesus“ ertappe ich mich dabei, bei dem Track „Liebe auf den 1.Mai“ vergnügt mitzusingen.
Weitere Schlager der Neuzeit sind der Supermarkt-Song „Kasse 5“ („Du wolltest Model werden, doch der Laufsteg rollt an dir vorbei …“), das kompromittierende „Ich hab Dich gestern Nacht auf Youporn gesehen“, das besinnliche „Vaffanculo“, das mitreissende „Wir müssen los“, die liebliche Punker-Hymne „Sternies“, die romantische Aufforderung „Die Eier“, das herzergreifende „Bitte bleib“ und mit „Heike 2“ eine sehr schön verschachtelte Kette sprühenden Wortwitzes („Weisst du noch, als ich dein zartes Elfenbeinküste …“).
Neon-poppiger-Comedy-Party-LoFi-Punk – lustig und bescheuert zugleich.