Italien ist ein tief gespaltenes Land. Da gibt es die bergigen nördlichen Gebiete, die als Hochburg der Rassisten der Lega Nord gelten; die von oftmals hoffnungslos veralteten Industrielandschaften geprägten Ebenen des Nordens; den „roten Gürtel“, der sich in Mittelitalien von Bologna und Florenz bis Umbrien zieht und nicht zuletzt die ewige Stadt Rom, sowie den Süden der italienischen Republik, die stark von der organisierten Kriminalität geprägt sind.
Meine Heimat Italien scheint derzeit das korrupteste Land Europas zu sein. An die schon fast 2000 Jahre währenden schmutzigen Machenschaften des Heiligen Stuhls hatten wir uns ja gewöhnt, nirgendwo sonst hat die Kirche derart massiven Einfluß auf die Tagespolitik, aber dann kam Mr. Bunga Bunga – Silvio Berlusconi. Nach gut einem Dutzend Verfahren, die er in den vergangenen Jahren als Ministerpräsident mit maßgeschneiderten Gesetzen abwehren konnte, wird er nun doch endlich in Mailand vor Gericht gestellt. Ausgerechnet in Mailand, das traditionell Pro-Berlusconi ist, stöhnten wir, doch dann erkoren die Mailänder bei den wohl wichtigsten Kommunalwahlen der letzten 20 Jahre den linken Rechtsanwalt Luciano Pisapia zum Bürgermeister. Dieser Sieg ist ein kleines Wunder und bedeutete einen schweren Schlag für Berlusconi.
Doch Berlusconi ist längst nicht der einzige italienische Politiker, der öffentlich Wasser predigt, aber heimlich Wein trinkt. So hat die peinliche Unfähigkeit von Carlo Maria Giovanardi, dem katholischen Minister für Drogen, Sport und Familie dafür gesorgt, dass Italien unter allen Ländern der EU die höchste Konsumrate für Cannabis hat und bei Kokainkonsum den dritten Platz belegt. Über die unschöne Rolle Italiens im Geschäft mit meist über Afrika eingeschmuggelte südamerikanische Drogen wird noch nicht einmal öffentlich gesprochen.
Dabei sind z.B. Kolumbien und Italien offiziell „Partner in der Drogenbekämpfung“. Hinter vorgehaltener Hand geben Politiker freilich zu, dass es sich dabei eher um eine Partnerschaft der Drogenindustrie handelt.
Im täglichen (Klein-)Krieg gegen Drogenkonsumenten geht die Polizei in Italien deutlich härter vor, als z.B. in Deutschland. Die Repression hat in den letzten Jahren noch einmal im ganzen Lande stark zugenommen und bildet heute die Kehrseite der „Dolce Vita“-Medaille. Die grausame Ermordung Stefano Cucchis in Rom, Federico Aldovrandis in Ferrara und dutzende weitere Todesfälle bei Polizeieinsätzen gegen Konsumenten sind die düstersten Auswüchse einer in Gänze gescheiterten Drogenpolitik.
Dennoch soll nicht verschwiegen werden, dass die meisten Italiener das Leben (mit Drogen) genießen. Die lange Streik- und Streitkultur des Landes führte im letzten Jahrzehnt gemeinsam mit der massiven Repression dazu, dass es in Italien eine sehr aktive Legalisierungsbewegung gibt.
Im Jahr 2008 mobilisierte sie zur GMM-Demo in Rom derart viele Menschen, dass die Neue Südtiroler Tageszeitung „Die spinnen die Römer! Vietato Vietare (Verbieten Verboten)” titelte. Obwohl die Organisatoren die Teilnehmerzahlen danach reduzieren wollten, kamen im Jahr 2009 mehr als 150.000 Teilnehmer (!) und machten den GMM zum Million Marihuana Monster. Der GMM in Rom ist eine Streetparade mit Technorhythmen, eingehüllt in eine dicke “Gras-Wolke”. Ohne repressive Fäuste im Nacken wurde und wird hier ungeniert konsumiert. Ein bunter Haufen verschiedener Jugend- und Subkulturen ”tanzt” jeden ersten Samstag im Mai in den Straßen Roms und die Ordnungskräfte halten sich dezent im Hintergrund.
An diesen Tagen kann selbst die weit überwiegend prohibitionsfreundliche italienische Presse den Willen der Bevölkerung, das Hanfverbot zu beenden, nicht ignorieren. Die Presse, selbst vermeintlich alternative und linke Tageszeitungen schreiben üblicherweise lediglich die Klischees ab, die ihnen die Regierung vorsetzt. Die meisten Artikel machen dabei unreflektiert „die Mafia“ für die eskalierenden Drogenprobleme des Landes verantwortlich, ohne wirklich zu analysieren, wer in Sachen Drogen falsch liegt.
Zum GMM ist dies für ein paar wenige Tage anders. Dies galt 2010 trotz gesunkener Teilnehmerzahlen (immerhin noch gut 30.000 Demonstranten in Rom) um so mehr, weil sich neuerdings auch jene in den Zug einreihen, die vor wenigen Jahren noch von „Narcomafia, Punks und linken Spinnern“ sprachen. Immer mehr vermeintliche „Punks“ bemerken erstaunt, dass aus bürgerlichen alten Damen binnen weniger Jahre die besten Genossinnen geworden sind.
Und nun fällt Mailand an einen linken Rechtsanwalt – ausgerechnet Mailand, das bis zu den letzten Wahlen als Hochburg der Konservativen und der Rassisten von der Lega Nord galt (die komischerweise die Alpenrose als Parteiwappen benutzen, die einem Hanfblatt sehr ähnlich sieht). „Was ist bloß in Mailand los?“ fragten sich nach der Wahl von Giuliano Pisapia die Zeitungen. Dabei hat die Stadt, die erst den Faschisten und später Berlusconi den Weg zur Macht ebnete, traditionell ein buntes Kulturleben. Mailand gilt nicht nur als italienische Hauptstadt der Mode, sondern auch des massiven Drogenkonsums. Schon in den Siebzigern wurden hier die ersten öffentlichen Hanferntefeste gefeiert. Die Stadt genoss einen solchen (fragwürdigen) Ruhm, dass ihr konsumfreundliches Klima vom deutschen Comickünstler Seyfried unter dem Titel ”Fumi? Allora vieni alla manifestazione” (Rauchst Du, dann komm zur Demo) in seinem Buch „Invasion aus dem Alltag“ verewigt wurde.
In diesem Jahr rückte zusätzlich Pisa, die Stadt des schiefen Turms, auf die drogenpolitische Landkarte. Zwar ist die dortige GMM-Veranstaltung deutlich kleiner als in Rom, aber der Versuch des sozialdemokratischen Bürgermeisters und des Ministers für Drogen, Sport und Familie Carlo Maria Giovanardi die Demonstration zu verbieten, verschaffte den knapp 5.000 Teilnehmern erhebliche Aufmerksamkeit der Medien. In diesem Sinn war die „kleine“ Canapisa ein echter Erfolg.
Es gärt heute an vielen Stellen in Italien. Es geht wieder aufwärts, weil normale Menschen wie die Bürgerinnen von Mailand jetzt widerwillig werden. Ein tiefes Knurren ertönt tief im gesellschaftlichen Magen.
Wer mehr über die „Befindlichkeiten“ der italienischen Seele erfahren möchte, dem empfehle ich den Roman „Rumble Bee“ von Marco Philopat & Duka. In dem von Kritikern als „lebendigsten Roman der letzten Jahre“ gelobten Werk beschreiben sie die Konvulsionen einer Welt am Rande des Abgrundes und fragen sich, was aus den Utopien der Siebziger und der Euphorie der frühen Achtziger mit ihren Paraden und Festen geworden ist. In Episoden wird der Versuch unternommen, einen roten Faden wachsenden Zorns vom Erbeben in Abruzzen bis zu den Schlangen vor von der Pleite bedrohten Fillialen der Deutschen Bank, von einem brennenden London bis zum internationalen Schmuggel von Rassehunden und von den Krawallen vom 14. Dezember 2010 in Rom zum „kommenden Totalaufstand“ zu ziehen.
Wo immer ich den Roman in Italien vorstelle, zuletzt z.B. bei der Canapisa, wird er mit großem Interesse aufgenommen. Ich bin mir sicher, dass er auch Deutschen gefallen wird.
Die Wüste ruft! Rumble Bee!
Empfohlene Links
www.millionmarijuanamarch.info (GMM-Demonstration in Rom)
www.fuoriluogo.it (Drogenreformgruppe um den ehemaligen Staatssekretär Corleone, die auch eine monatliche Zeitung herausbringt)
www.osservatorioantipro.org (Organisatoren der „Canapisa“)
www.lab57.org (Drugchecking und Harm Reduction)
www.radioforpeace.info (Freier Radiosender aus Bologna)