Mittwoch, 1. Juni 2011

Cannabinoide zum Nervenschutz

Franjo Grotenhermen ist Vorstand und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin

Vor einigen Jahren veröffentlichte Professor Raphael Mechoulam, der 1964 zum ersten Mal die genaue Struktur des Cannabiswirkstoffs Delta-9-THC beschrieben hatte und vor wenigen Monaten seinen 80. Geburtstag feierte, einen Artikel zum Thema Nervenschutz durch Cannabinoide. Darin erläuterte er seine Auffassung, nach der das körpereigene Cannabinoidsystem vor allem dem Schutz des Nervensystems dient. Diese Auffassung ist unter Wissenschaftlern heute allgemein akzeptiert.

Eine Vielzahl von tierexperimentellen Studien hat gezeigt, dass Cannabinoide das zentrale Nervensystem vor Schäden durch Verletzungen, durch eine verminderte Durchblutung und Versorgung mit Sauerstoff, durch Entzündungen und toxische Schäden durch eine Übererregung des Nervensystems schützen können. Wenn das körpereigene Cannabinoidsystem aus Endocannabinoiden und Cannabinoidrezeptoren diesen Schutz nicht mehr Gewähr leisten kann, können von außen zugeführte Cannabinoide eine sinnvolle Ergänzung darstellen. Es gibt verschiedene Mechanismen, die dabei einen Beitrag leisten.

Manchmal ist der Mechanismus nicht genau bekannt, es lässt sich jedoch ein Nervenschutz feststellen. Beispielsweise schützte THC das Gehirn vor einer giftigen Substanz (Quabain). Ratten, die dieses Gift zusammen mit THC erhalten hatten, wiesen in der akuten Phase der Vergiftung ein deutlich reduziertes Hirnödem auf. Nach sieben Tagen waren die Nervenschäden bei den mit THC behandelten Tieren um ein Drittel geringer als bei den nicht Behandelten. Diese Wirkung wurde nicht durch den Cannabinoid-1-Rezeptor vermittelt. Häufig ist dieser Rezeptor an den THC-Wirkungen beteiligt. Cannabinoide sind jedoch beispielsweise auch Fänger freier Radikale, die durch ihre große chemische Reaktionsbereitschaft Schäden im Nervensystem und anderen Organen verursachen können. Diese Wirkung wird nicht durch Cannabinoidrezeptoren vermittelt.

Die multiple Sklerose ist eine neurodegenerative Erkrankung, die durch eine Entzündung des Zentralnervensystems ausgelöst wird. Mäuse, die durch eine genetische Manipulation keine Cannabinoid-1-Rezeptoren besitzen, tolerieren entzündliche Schädigungen der Nerven wesentlich schlechter als normale Mäuse. In einem Tiermodell der multiplen Sklerose entwickelten diese Tiere eine ausgeprägte Degeneration der Nerven. Die Forscher, die dieses Experiment durchführten, folgerten, dass „zusätzlich zum Symptom-Management, Cannabis auch den neurodegenerativen Prozess verlangsamen kann, der schließlich zur chronischen Beeinträchtigung bei multipler Sklerose und möglicherweise anderen Erkrankungen führen kann“. Cannabinoide hemmen eine Anzahl entzündungsfördernder Botenstoffe (Zytokine) und wirken so entzündungshemmend, im zentralen Nervensystem und anderen Organen bzw. Geweben.

Im vergangenen Jahr untersuchte eine Gruppe von Wissenschaftlern am Institut für Neurowissenschaften in Irland die Wirkungen von Endocannabinoiden bei der Entstehung der Alzheimer-Krankheit. Beim Morbus Alzheimer wird vermehrt das so genannte Amyloid-Beta produziert, eine giftige Substanz, die in den Zellen eingelagert wird und schließlich zum Tod der betroffenen Nervenzellen führt. Die Wissenschaftler zeigten, dass das Endocannabinoid-System bestimmte Bestandteile der Zellen – diese Bestandteile heißen Lysosomen – gegen die Giftigkeit von Amyloid-Beta stabilisieren kann. Sie stellten fest, dass „die Stabilisierung der Lysosomen durch Endocannabinoide einen neuen Mechanismus darstellen könnte, durch den diese Lipid-Modulatoren Nervenschutz bewirken“.

Der Nervenschutz spielt manchmal eine zusätzliche Rolle bei bekannten Cannabinoid-Wirkungen. Seit etwa 40 Jahren ist es bekannt, dass THC bzw. Cannabis einen erhöhten Augeninnendruck bei Menschen mit Glaukom (grüner Star) reduziert. Aus diesem Grund gibt es eine Anzahl von Glaukom-Patienten, die erfolgreich THC oder Cannabis bei dieser Erkrankung verwenden, auch in Deutschland. Später wurde bekannt, dass die drohende Erblindung von Menschen mit Glaukom durch Cannabis nicht nur auf der Wirkung auf den Druck im Inneren des Auges, sondern auch auf der Verbesserung der Durchblutung sowie auf dem Schutz des Sehnervs beruht. Der Endzustand des Glaukoms ist der Tod von Nervenzellen durch einen programmierten Zelltod, der durch eine Schädigung des Sehnervs durch Druck oder mangelnde Durchblutung verursacht wird. Die Aktivierung bestimmter Rezeptoren (NMDA-Rezeptoren) durch die Freisetzung des erregenden Botenstoffs Glutamat während einer reduzierten Blutversorgung triggert eine Kaskade von Reaktionen innerhalb der Nervenzellen, die zu deren Tod führt. Die Nerven erregen sich sozusagen zu Tode. Die Aktivierung von CB1-Rezeptoren schützt die Nerven vor dieser Übererregung, indem sie die Freisetzung von Glutamat begrenzt.

Auch bei einem Schlaganfall, bei dem das betroffene Hirnareal aufgrund des Verschlusses einer kleinen Hirnarterie oder einer Blutung ins Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden kann, tritt eine verstärkte Freisetzung von Glutamat ein. Die daraus resultierende Übererregung der Nerven, die zum Nerventod führen kann, vergrößert das Ausmaß der Schädigung des Gehirns nach einem Schlaganfall.
Ein Nervenschutz durch von außen zugeführte Cannabinoide konnte allerdings beim Menschen noch nicht in einem Umfang nachgewiesen werden, dass sich daraus ein therapeutischer Nutzen ableiten ließe, etwa zur Beeinflussung des Verlaufs einer multiplen Sklerose oder zur Vorbeugung der Alzheimer-Krankheit.

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