Mittwoch, 9. Juni 2010

Rolys Silberscheiben des Monats Juni

Flying Lotus: Cosmogramma
(warp records)

Eines meiner absoluten Lieblingslabels feierte im vergangenen Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Das Markenzeichen: Avantgarde. Was Warp macht, setzt Zeichen für die Zukunft. Der Ausnahmeproduzent Flying Lotus legt nach seinem vielbeachteten „Los Angeles“ den Nachfolger vor. Auf „Cosmogramma“ (das kosmische Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle) erwartet den Zuhörer eine beatverfrickelte Geschichte, wenn bassig-wabernde-Rhythmen auf sphärisch-knisternde Ambient-Klänge treffen. Der Opener „Clock Catcher” kommt mit verstörenden 8-Bit-Computersounds, die in weichen Harfennoten münden. Es folgen komplexe Shuffle-Beats, die in der Bassdrum-Nummer „Nose Art“ landen. Mit „A Cosmic Drama“ beginnt dann ganz sanft das eigentliche Intro des Orchestermeisters. Ein vermehrter Einsatz von Live-Instrumenten wie Streicher sowie die Rekrutierung prominenter Jazz-Musiker bilden auf 17 fragilen Tracks neue, warme Klangtexturen. So veredeln Saxophonist und Cousin Ravi Coltrane, Bass-Virtuose Thundercat, Harfen-Wunderkind Rebekah Raff oder Erykah Badu- und Outkast-Streicher Miguel Atwood-Ferguson den Longplayer. Gastvokalisten gibt’s mit Laura Darlington und Thom Yorke (Radiohead) auf dem subtilen IDM-Sound von „… And The World Laughs With You”. Vorhersehbare Patterns existieren hier nicht, und genau das macht dieses Album zu einem spannenden Hörerlebnis. Der amerikanische Wonkypionier fusioniert basslastige Space-Electronica mit R&B, Soul, Jazz, Disco & Psychrock und belegt mit „Cosmogramma“ eindrucksvoll, weshalb ihn die Matriarchin der globalen Bass Music, Mary Anne Hobbs, als den „Hendrix seiner Generation“ bezeichnet. Ellison at its best!
www.myspace.com/flyinglotus
www.warp.net


Anthony Rother: Popkiller II
(datapunk)

Das, was heutzutage so alles unter dem Banner „Techno“ läuft, ist in den meisten Fällen nicht mein Ding. Monotones Gehämmer und pseudointellektueller Minimal bringen mich zum Gähnen, kicken ohne Groove und Seele allerdings überhaupt nicht. Ein Mann, bei dem ich dagegen immer wieder hellwach werde, hört auf den Namen Anthony Rother. Seit „Sex With The Machines“ (1997) schlägt mein eisgekühltes Electro-Herz für ihn, zeitlose Werke wie „Simulationszeitalter“ (2000), „Little Computer People“ (2001) und „Hacker“ (2002) auf seiner 1998 gegründeten Labelplattform „Psi49Net“ begeistern mich nach wie vor genauso wie „Popkiller“ (2004) und „Super Space Model“ (2006) als Meisterstück klanglicher Essenzierung, die über das 2004 entstandene Imprint „Datapunk“ als Signal klanglicher und thematischer Neuausrichtung veröffentlicht wurden. Ungeduldige Fans hatten bereits Release-zyklische Berechnungen gemacht, Frankfurter Insiderkreisen waren Details schon als unbestätigte Meldungen bekannt, und dann blitzte ein erstes „Disco Light“ als Appetizer auf. Wieder völlig selbstbestimmt und künstlerisch konzentriert werden wir mit „Popkiller 2“ Ohrenzeuge eines Anthony Rother, der endlich wieder wie entfesselt produziert. Die zehn charismatischen Tracks wirken durch mehr als ihre unverwechselbar magische Klangästhetik. Denn was „Popkiller 2“ erneut zur Besonderheit im Underground macht, sind vocal-zentrierte Themen wie „Mother“ (als Komplementär zum Popkiller-Hit „Father“), „Rotation“ oder das dramatische „Grab Your Life“. Praktisch Vocoder-ungefiltert geht Rother stimmlich einmal mehr aufs Ganze und überzeugt mit melodischen Tracks voller Emotionen, rauer Schönheit und Freisetzung unbändiger Energie. Big Boy Moderntronic!
www.myspace.com/anthonyrother
www.anthony-rother.com


Frittenbude: Katzengold
(audiolith)

Nachtigall, ick hör dir trapsen. Nach dem Panda ist vor der Katze. Nach ihrem Debütalbum „Nachtigall“ mit den Top-Singles „Pandabär“ und „Mindestens in 1000 Jahren“ legen die drei Buben aus Bayern mit „Katzengold“ nach. Mehr Indie? Mehr Rap? Oder nur ein Steinwurf in die richtige Richtung, eine Knackwatschn mitten ins Gesicht und manchmal auch der Traum, den wir nicht träumen dürfen. Musikalisch sind Frittenbude eine Fusion aus den verschiedenen Interessen der Mitglieder: Ja!kob aka das Basslaster (Beats, Geschrei & Produzent) mag Electro, Midimúm aka Martin Steer (E-Gitarre, Gesang & Konsument) hört viel Rock und Ruede Sucre aka Streuner (Raps, Gesang & Delinquent) steht auf Hip Hop. Vor allem Tracks wie „Unkenrufe“, „Schandenschmuck“, „Und täglich grüsst das Murmeltier“, „Ob es reicht sie zu finden“, „Vom Fliegen“, „2 + 0 = 4“ und „Seifenblase“ gehen textlich und mit dickem Groove voll nach vorne. Mein Lieblingssong ist das finale „Bilder mit Katze“, das hören meine beiden Kätzchen und ich wirklich sehr gerne und schnurren dazu ordentlich durch die Gegend. Ja, das hier ist ein possierliches Album über die dunkle Seite der bunten Parties und über Träume, die an der Realität scheitern und nach dessen Genuss man so große Augenringe hat wie der seinerzeit besungene Pandabär. Als Bonus gibt’s bei der limitierten Erstauflage das 11-Track-starke Remixalbum „Plörre“ dazu, auf dem die Ravetruppe den Songs von Click Click Decker, Kettcar, Egotronic, Ira Atari & Rampue, Die Sterne, Dadajugend Polyform, Supershirt, Näd Mika und Plemo & Rampue ihren unverkennbaren Stempel aufdrückt. Erwachsen geworden, flegelhaft geblieben – so muss das sein!
www.myspace.com/frittenbude
www.frittenbude.blogsport.de


Bauchklang: Signs
(monkey)

Die 1996 gegründete Combo entstand im niederösterreichischen St.Pölten aus einem gemeinsamen Musical-Projekt heraus. Nur mit der Kraft ihrer Stimmen, ihre Bauches und ihres Zwerchfells erzeugen sie ihren ganz eigenen Sound. Peu à peu erfanden fünf Vokalisten das Genre A-Cappella praktisch neu und übersetzten es ins dritte Jahrtausend. Mit virtuoser Stimmbeherrschung, Mouth Percussion und Human Beatboxing generieren Bauchklang einen Gesamtsound, dessen breites Klangspektrum, rhythmische Akzentuierung und brachiale Massivität für das Publikum kaum fassbar ist. Bereits 2002 wurden sie vom österreichischen Radiosender FM4 mit zwei „Amadeus Awards“ als bester FM4 Alternative Act und für ihr Debutalbum „Jamzero“ ausgezeichnet. Nach ihrem Livealbum „Live in Mumbai“ bewegen sich Bauchklang auf ihrem dritten Studioalbum „Signs“ stärker denn je im Club-Kontext und verdichten ihren Mix aus Dub, Elektro, HipHop, Drum’n’Bass und Worldmusic. Die indische Metropole mit ihren kulturellen Eigenarten und den Gegensätzen zwischen Reichtum und Elend war eine grosse Inspiration. So drückt das Album die Hoffnung an eine bessere Zukunft aus, aber auch Verzweiflung, Depression und Überforderung. Meine geliebte US-Spoken-Word-Queen Ursula Rucker sowie Rap-Poet Rouda und Beatboxer Tez aus Frankreich bereichern das schöne Album. „Nothing but human voice and a microphone“ – Bauchklang haben einen hypnotischen Groove, der aus den Eingeweiden kommt, zum Nachdenken anregt und in die Beine rauscht.
www.myspace.com/bauchklang
www.bauchklang.com


Trentemøller: Into The Great Wide Yonder
(in my room)

Obwohl seine Karriere mit einer Reihe bahnbrechender Singles in der elektronischen Szene begann, hat seine Musik stets Genregrenzen gesprengt. Das mehrfach preisgekrönte Debutalbum „The Last Resort” (Poker Flat Recordings, 2006) bleibt eins der meistgeliebten Independent Alben. Mit seinem zweiten Studioalbum liefert der dänische Produzent und Soundtrendsetter Anders Trentemøller erneut viel Tiefe und Seele, allerdings haben die zehn Tracks nun eher eine Art Indie-Rock-Ästethik und sehr viel Dynamik. Es sprudelt nur so an brillanten Melodien und musikalischen Ideen, die mit verzerrten, antreibenden Twang-Gitarren, echtem und elektronischem Schlagzeug, Streichern, Bassmandoline, Theremin und eindringlichem Synthesizer-Sound umgesetzt wurden. Vier Gesangsstücke fügen sich nahtlos in dieses lebendige Album ein, so bezaubert gleich die erste Single „Sycamore Feeling“ mit Marie Fiskers atemberaubender Stimme. Gemeinsam mit dem englischen Musiker Fyfe Dangerfield von den Guillemots, den Sängerinnen Solveig Sandnes und Josephine Philip von dem Indie-Gesangsduo Darkness Falls und Trentemøllers eigenem Songwriting wird uns ein überwältigender Soundkosmos eröffnet. „Into The Great Wide Yonder” ist Electronica, die mit Neo-Folk, Indie-Rock, Psychedelia und mehr verschmilzt. Ich mag diesen skandinavischen Filmmusik-Vibe mit seiner melancholischen Energie. Denn in den Tiefen und der Dramatik, die raumerfüllend klingen, liegt eine tragische Romantik verborgen, die man finden und auf die man sich einlassen wollen muss. Ganz grosses Kino!
www.myspace.com/trentemoeller
www.anderstrentemoller.com

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