15. September 2008.
Am frühen Morgen kurz nach 8 Uhr trabe ich bei meinem Hausarzt an, um mir wegen einer vermuteten Allergie gegen ein antivirales Medikament eine bereits im Vorwege angekündigte Einweisung ins örtliche Krankenhaus zu holen. Ich muss wirklich schlimm aussehen im Gesicht, am Hals und an den Augen…nahezu wie eine „Pellkartoffel mit Sonnenbrand-Syndrom“. Dunkle Rötungen und brennende, juckende Schwellungen, so als ob ich an einigen ausgewählt sensiblen Stellen heftig verbrüht worden sei.
Vor meiner Klinik-Einweisung soll noch eine Blutentnahme zur Viruslast-Bestimmung erfolgen, damit labortechnisch festgestellt werden kann, ob ich weiterhin „positiv“ auf das bisher betriebene Viruslast-Killing meiner chronischen Hepatitis anspreche. Die anomalen Thrombozyten- und Leukozytenwerte jedenfalls künden davon.
Die Praxis meines Docs betretend stelle ich fest, dass die Sprechstundenhilfen mal wieder absolut im Stress sind. Sämtliche Beschäftigten in Weiß huschen zwischen Empfangstresen und Sprechzimmer geschäftig hin- und her. Telefone klingeln. Patienten drängeln resolut und möchten ihre Anliegen loswerden. Das kleine Wartezimmer ist proppevoll und zeigt deutlich, wie sehr das Geschäft mit der Krankheit als Gesundungs-Business brummt. Prächtig. „Haben sie schon ihre Quartals-Praxisgebühr entrichtet?“ höre ich eine freundliche Stimme aus dem busy-busy Hintergrund fragen.
Ich scheine diesmal Glück zu haben und werde umgehend zum Blutabnehmen ins Labor gelotst: Die Vene wird gestaut, kurz desinfiziert und schon dringt die Kanüle mit einem Pieks unter die Haut. Suchend, auf knorpeligen Widerstand stoßend und nicht eben schmerzfrei, doch leider daneben. „Tja, das muss dann wohl doch der Doktor machen“, lautet der leicht verunsicherte Hinweis der Praxishelferin. Manchmal trifft sie meine Vene. Manchmal trifft sie sie nicht. Auch bei ihr scheint die Tagesform eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen.
Mein Doc ist derweil in einem Behandlungsgespräch mit einem seiner vielen anderen Patienten. Also muss ich wieder raus aus dem Labor, damit gleich der nächste Kranke angezapft werden kann. Für mich heißt das, erneut in der Reihe der Wartenden anzustehen, die vom Tresen bis vor die Eingangstür reicht. Auf dem Tresen ein gut sichtbares Schild, das um „ Abstand und Diskretion“ wirbt.
„Ach, Herr Junker, dann können sie zwischenzeitlich ja schon mal Urin für das Screening abgeben…“, spricht mich die Sprechstundenhilfe vor aller Ohren an. Klar, kann ich… So abgestanden diskret wie schon seit 27 Jahren Substitutionsteilnahme. Regel(un)mäßig alle drei Wochen. Auf diese nassforschende Weise soll überprüft werden, ob ich außer dem Substitutionsmittel vielleicht noch zusätzlich illegale Substanzen konsumiere, was zwar für Cannabis eindeutig der Fall ist, aber in den langen Jahren der Ersatzstoffvergabe noch keinen meiner behandelnden Ärzte wirklich ernsthaft interessiert hat. Allgemeinärztlicher Tenor simplifiziert widergegeben: “Na und?“
Ich schiebe mich also mit dem Urin-Becher in der Hand quer durch den Pulk der vielen Wartenden Richtung Toilette, schließe mich im Raum ein, pinkle den Minimumbedarf ins Behältnis, schließe mich wieder aus dem Örtchen aus und dränge mit dem durchsichtigen Becher und seinem gelbfarben schwappenden Inhalt in der hoch erhobenen Rechten quer durch die Reihe der herumstehenden Patienten zurück in Richtung Labor. Als ich das Plastik- Behältnis dort auf dem Tisch abstelle, schießt mir kurz durch den Kopf, ob es eigentlich insgesamt gerechnet schon ganze Hektoliter an Pisse sein könnten, die ich bisher zum Nachweis meines Clean-Seins in knapp 30 Jahren habe abgeben müssen. Kopfschüttelnd stelle ich mich erneut in der Warteschlage an und erschrecke zutiefst über den kruden Nachfolgegedanken, dass mit solch solider Gesundheitsprävention flächendeckend Kasse zu Lasten des Sozialsystems gemacht wird.
Wenige Minuten später ruft mich mein Doc ins Labor, zapft mir wie im schmerzfreien Blindflug und mit traumwandlerischer Sicherheit 3 volle Röhrchen Lebenssaft ab und sagt mir en passant, dass ich ab sofort das Medikament Interferon absetzen soll, weil es der Auslöser meiner Allergie sein könnte. Danach drückt er mir eine doppelte Ausfertigung der Krankenhauseinweisung so wie eine Arbeitsunfähigkeitbescheinigung für Arbeitgeber und Krankenkasse in die Hand, wünscht mir alles Gute und widmet sich nach einem kleinen Schluck an der bereitstehenden Kaffeetasse seinem nächsten Klienten.
Draußen schnappe ich mir an der nächsten Straßenecke das nächstbeste Taxi und mache eine kleine Stadtrundfahrt, die mich bei meinem Arbeitgeber und bei der Krankenkasse vorbeiführt, um daselbst die notwenigen Formalien zu erfüllen. Vordrucke abgeben und die Situation erläutern. Dann lasse ich mich nach Hause chauffieren, schnappe mir die zuvor gepackte Reisetasche und nenne dem Fahrer mein endgültiges Fahrziel: Nordseeklinik, Dermatologie.
Nachdem ich aus dem Taxi abgesetzt worden bin, greife ich mir mein Gepäck, laufe ein paar Meter und lande schließlich schweißgebadet an einem büroartigen Zimmer, das die Patienten-Aufnahme sein könnte. Sicherheitshalber frage ich die dort herumwuselnde Schwester, ob ich bei ihr richtig sei. Sie wirft einen knappen Blick auf meine Einweisung, verneint unwirsch und murmelt etwas von „…haben sowieso kein Bett frei. Aber setzen sie sich mal dort drüben hin. Ich klär das eben…“ Dann telefoniert sie und schickt mich kurz darauf mit meinem schweren Gepäck quer durch das verwinkelte Krankenhausgelände zur Stations-Aufnahme. Dort angekommen kanzelt mich eine anwesende Ärztin ab, ich sei weder registriert – noch angemeldet und überhaupt… wo denn meine Arztunterlagen wären; das sei ja total unmöglich, einfach ohne jedwede Unterlagen anspaziert zu kommen und um Aufnahme ins Krankenhaus zu fragen. Als ob sie mich für meine Unbotmäßigkeit abstrafen wollte, schickt sie mich erneut zurück zum Ausgangsort der Patienten-Aufnahme, weil ich dort meinen Zimmerschlüssel abholen müsse.
Der Schlüssel wird nicht gefunden. Folglich schickt man mich durch die weitläufig krankenhäusliche Gegend zur Rezeption. „Die Rezeption ist infolge der Postabholung zeitweilig nicht besetzt“ kündet ein Schild, aber nach 20 Minuten kommt doch noch eine freundliche Dame und händigt mir auf Nachfrage den Schlüssel für Zimmer 122 aus. Zurück also zur Patienten-Aufnahme Dermatologie. Gepäck schnappen und aufs Zimmer bringen. Auspacken. Ankommen. Nassgeschwitzt bis auf die Unterwäsche Erholung finden. Vielleicht auch nur Erleichterung? Wenigstens Linderung?
12 Stunden nach meiner Ankunft in der Klinik habe ich für den ersten Tag zwei intensive Aufnahme-Gespräche mit zwei unterschiedlichen Ärzten nebst Total-Anamnese hinter mich gebracht. Dazu eine flüchtige Haut-Untersuchung. Eine Gewebeproben-Entnahme am Hals unter örtlicher Betäubung mit ungewollt komischer Fragestellung: „Reagieren sie normal auf Betäubungsmittel?“ Daneben habe ich einen Schwall an unterschiedlichen Norm-Papieren ausgefüllt, Fragen beantwortet, Medikamente benannt – u. a. Cannabinoide 400 mg täglich -und arbeite mich peu à peu durch Vordruck um Vordruck: Patienten-Informationen. Hausordnung. Termin-Hinweise. Verlaufskontroll-Zettel. Getränke-Karten. Essenswunsch-Abklärung und statistische Umfragen. Stuhlproben-Entnahme-Anweisungen und eine explizite Beschreibung des Gewinns von sogenanntem morgendlichen „Mittelstrahlurin“.
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