Dienstag, 7. Februar 2006

Das Gegenteil der Matrix ist nicht immer die Maya

Wir hatten eine Einladung von Ivan und Jenny erhalten, mit ihnen ihren Abschied von Österreich zu feiern, hoch oben über den Dächern von Salzburg gleich neben der Festung, wo Jenny ein Jahr lang im Mozarteumhaus gewohnt hatte. Nun würden die beiden nach Ungarn gehen, Ivans Heimat, um dort einige Zeit zu leben. Sie waren schon viel herumgekommen in der Welt, unterwegs verdienten sie sich ihr Geld meist mit Straßenmusik, Jonglage und ähnlichem. Wir waren daher schon sehr gespannt auf das Fest und die Mischung der Menschen, die wir dort antreffen würden.

Jenny hieß uns willkommen und erklärte uns, was sie die „Regeln des heutigen Abends“ nannte. Wir bekamen jeder fünf vergoldete Steinchen in die Hand gedrückt, so genannte „Stounts“, die Partywährung, wie uns Jenny bedeutungsschwanger und mit breitem Grinsen zuraunte. Partywährung? Richard und ich tauschten einen Blick. Auch er war schlichtweg verwirrt. Jenny führte uns weiter und wortreich in dieses Mysterium ein. „Mit den Stounts werden Essen und Trinken bezahlt. Ein Teller Essen fünf Stounts, ein Bier drei Stounts, ein Radler zwei Stounts. Es gibt die Möglichkeit sich etwas dazu zu verdienen, etwa mit Teller waschen, Abservieren, Musik machen, …“ Ich war mir zuerst nicht sicher, ob Jenny uns jetzt verarschen wollte oder ob das Ganze ernst gemeint war. Ich wechselte eine zweiten Blick mit Richard. Auch er schien noch auf eine Erleuchtung zu warten.

Wir hatten den beiden als kleines Abschiedsgeschenk einen Schokoladenkuchen gebacken, den wir Jenny nun überreichten. Wir bekamen dafür einen Stount und ein Dankeschön, in dieser Reihenfolge. Na gut, diese Frage hatten wir zumindest geklärt, sie meinte es wirklich ernst. Ich ertappte mich dabei, wie ich sauer wurde, weil unser liebevoll selbst gemachter Kuchen nur einen Stount wert sein sollte. Ich schüttelte den Kopf. Hatte ich etwa dieses selbsternannte „System“ sofort gegen meine eigenen Werte eingetauscht? Wir hatten ihnen den Kuchen geschenkt, weil wir es gerne taten. Das sollte der wirkliche Wert für mich sein, nichts anderes!

Ich verblieb mit Neugierde, um zu sehen, wie sich dieser Abend entwickeln würde, obwohl mich schon jetzt ein seltsames Gefühl beschlich. Irgendetwas taugte mir da überhaupt nicht. Ich holte mir ein Glas Leitungswasser – ich habe nachgefragt, es war umsonst – und ging alleine in den wunderbaren Garten, um eine zu rauchen und das Ganze in Ruhe auf mich wirken zu lassen. Vielleicht fand ich es nur deshalb so abartig, mit Geld zu spielen, weil ich es noch immer viel zu ernst nahm? Weil ich noch immer so in diesem System des Konsums feststeckte und mich deshalb weigerte, in meiner Freizeit etwas von „verdienen und zahlen“ zu hören? War es schlichtweg so, dass Leute wie Ivan und Jenny einfach schon weiter waren in diesem Punkt? Es blieb eine mysteriöse Angelegenheit. An diesem Abend redete ich nicht viel. Ich verbrachte die meiste Zeit damit, die Leute zu beobachten.

Den ganzen Abend über gab es ein großes Thema: die Stounts. Scheinbar hatten alle Anwesenden ohne Ausnahme dieses System widerspruchslos übernommen. War ich wirklich die Einzige, die sich damit unwohl fühlte? In diesem Moment kam ein junger Mann an meinen Tisch und fragte mich, ob ich irgendetwas wünschte. Völlig verwirrt, ob ich ihn jetzt dafür bezahlen müsste oder nicht – ich hatte zuvor alle meine Stounts Richard gegeben, damit er uns einen Joint organisierte – verneinte ich und er ging weiter. Am Nebentisch bat ein Mann seine Nachbarin um eine Zigarette, woraufhin sie lachend erwiderte: „Das kostet dich aber einen Stount!“ Er zahlte anstandslos das verlangte Steinderl. Na servas! Nun dämmerte mir, was mir an dem Ganzen nicht gefiel: Die Stounts liefen dem Geist eines Festes zuwider, Freiwilligkeit und Freigiebigkeit waren durch persönliches Interesse ersetzt worden.

Ich lauschte der Musik, Trommeln, Didgeridoo, ein Akkordeon, sehr groovy, und konnte mir die Frage nicht verkneifen: „Spielen die jetzt, weil sie Lust dazu haben oder um sich ein Bier zu verdienen?“ Was wäre der Unterschied für mich? Ich holte mir ein Stück unseres Kuchens vom Buffet. Zurück am Tisch bemerkte ich, dass mich zwei Mädels beobachteten. Ich fühlte mich observiert, weil ich nicht „bezahlt“ hatte. Ein Mann kam an den Tisch und bot mir Kuchen an. Ich nahm zwei Stück – eines für Richard und eines für mich – und speichere: Wenn sie was bringen, ist es gratis. Wichtige Information! Meinen Kuchen kauend ging ich meinen Gedanken nach: Hatte sich wirklich niemand geweigert, bei den Stounts mitzumachen? Was wäre in so einem Fall passiert? Müsste man das Fest verlassen? Oder würde man ein Gefängnis einrichten und ihn im Klo einsperren? Auf meinem Gesicht erschien ein breites Grinsen bei dieser Vorstellung. Just in diesem Moment brachte mir Richard ein Glas Orangensaft und die Nachricht, er habe nun Teller gewaschen, Musik gemacht und jongliert – genug um uns eine ganze Jahresernte zu verdienen – und würde nun noch die Tische abräumen. Mit diesem Satz war er auch schon wieder weg. Kurz darauf setzte sich Ivan an meinen Tisch und begann, mich zuvor um Paper und Tabak bittend, zu bauen. Ich konfrontierte ihn mit meinen Gedanken. Nein, es hätte sich niemand geweigert bei diesem Spiel mitzumachen, im Gegenteil. Wenn es so gewesen wäre, hätte man sicher eine Lösung gefunden.

Ich werde immer noch nicht schlau aus dem Ganzen. Ich denke an eine Radiosendung, in der eine Anruferin Hermann van Veen fragt, ob die „rechts klatscht links klatscht“-Aktionen mit dem Publikum bei seinen Konzerten als Demonstration der Manipulationswilligkeit der Massen gemeint seien. Machten sich Ivan und Jenny insgeheim über die Umsetzer ihres Systems lustig? Würden sie, falls ja, das Ganze irgendwann auflösen? Oder war es für sie einfach nur ein lustiges Partyspiel und ich dachte zu viel? Ivan riss mich aus meinen Denkschwaden, indem er quer über den Tisch langte um Richards Kuchen in sich hinein zu mampfen. Zwischen zwei Bissen meinte er dann: „Schau, das mit den Stounts ist ja nicht wirklich so streng. Ich esse auch diesen Kuchen ohne zu bezahlen“. Und dann lachte er. Als ich ihm daraufhin erklärte, dass das Richards Kuchen gewesen sei und das für mich weniger mit Geld oder Stounts sondern viel mehr mit Respekt und Umgangsformen zu tun hätte, hielt er einen Augenblick inne, sah mich unverwandt an, fuhr dann mit dem Kauen fort, packte sein Bauzeug zusammen und ging. Was zum Teufel …?

Zehn Minuten später kam Richard an und teilte mir mit, der Joint sei für andere Leute gedacht gewesen und unserer würde nun nicht mehr lange auf sich warten lassen. Halleluja, schön langsam verging mir die Lust auf cannabische Almosen.

Eine Dreiviertelstunde später, immer noch ohne gesmoked zu haben, fand ich Ivan und frage ihn nach dem Joint, wir waren gerade am gehen. Es war nicht mehr wirklich das Interesse am Rauchen, das mich fragen ließ, vielmehr wollte ich vorm Gehen noch mal austesten, ob sie den von ihnen selber aufgestellten Regeln folgten oder nicht. Ivan hatte keine Lust zu bauen und verwies mich in die Küche weiter, wo gerade einer im Umlauf war. Die Antwort hat mich nicht wirklich verwundert, erfreut aber auch nicht. Ich schnappte mir noch ein Stück von unserem Kuchen und dann ging es ab nach Hause, mit der Befriedigung, dass wir in diesem seltsamen System zumindest versucht hatten unser „Geld“ für illegale Drogen einzutauschen ;-).

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