Freitag, 29. Juli 2005

Eine Reise vor das Dach der Welt

– ein Neujahrsfest in Nepal

Bei einer Reise nach Nepal denken die meisten wohl zuerst an Trecking-Touren in den Himalaja. In meinem Bericht will ich von Erlebnissen erzählen, die zeigen, dass Nepal auch ohne Bergwanderung eine Reise wert ist. Im April 2004 nahm ich in einer Gruppe von Studenten an einer musikethnologischen Exkursion nach Bhaktapur teil. Unsere Aufgabe war es, das dortige Neujahrsfest und das Auftreten der mannigfaltigen Musikgruppen, die besonders von Trommeln und Becken dominiert werden, zu dokumentieren.

Zwischen Indien und Tibet erstreckt sich Nepal vom dschungelbedeckten Tiefland im Süden bis zu den höchsten Bergen der Welt. Im Großteil des Landes findet man kleine Dörfer und einfache Landwirtschaft. Im zentralen Teil des Landes liegt das Tal von Kathmandu, auf das sich früher der Name Nepal bezog und dessen Geschichte im frühen Mittelalter begann. Noch immer ist in dem ungefähr 1.300 Meter hoch gelegenen Talkessel von etwa 25 Kilometern Durchmesser das politische und kulturelle Zentrum des Landes. Und dort befinden sich neben der heutigen Hauptstadt Kathmandu auch die beiden anderen alten Königsstädte Patan und das von mir besuchte Bhaktapur. Obwohl sich in Nepal eine Vielzahl von Völkern und Kulturen zusammengefunden haben, stellt die Mehrheit der Bevölkerung im Tal von Kathmandu seit jeher das Volk der Newar. Die überaus lebendige Religion der Newar beruht vor allem auf dem Hinduismus, aber auch der Buddhismus ist zum Teil mit beeindruckenden Bauwerken im ganzen Tal vertreten. Religion und Riten sind fast überall fest in das tägliche Leben eingebunden und bei besonderen Festen bringen die Menschen Tieropfer, bei denen das Blut aus der frisch aufgeschnittenen Halsschlagader einer Ziege auf den Opferaltar spritzt …

Das Neujahrsfest, das auf nepalesisch Bisket Jatra heißt, richtet sich nach dem dortigen astrologischen Kalender und fällt bei uns in die Aprilmitte. Es beinhaltet eine Vielzahl von größeren und kleinern Ritualen, die sich neun Tage hinziehen und sich teilweise über die ganze Stadt erstrecken. Ihren Anfang nehmen die Feierlichkeiten vier Tage vor dem eigentlichen Neujahrstag mit einem Tauziehen um einen riesigen Holzwagen. Seit fast vierhundert Jahren geht es in diesem Wettziehen, zu dem sich Tausende Leute auf einem zentralen Platz der Stadt einfinden, um den rituellen Kampf zwischen Ober- und Unterstadt. Beide Seiten wollen die im Wagen befindliche Statue des Schutzgottes der Stadt zuerst in die eigene Hälfte ziehen. Das rhythmische Rufen der Männer und Jugendlichen, die ruckartig an den an beiden Enden des Wagens angebrachten etwa 30 Meter langen Taue ziehen, das sich daraus ergebende Hin- und Herschaukeln des Wagenaufbaus und das tosende Aufschreien, wenn der Wagen sich einmal in Bewegung setzt, sind einfach überaus mitreißende und unvergessliche Szenen. Der Wettstreit dauert viele Stunden an und findet meist erst spät in der Nacht sein Ende. Irgendwann während oder nach dieser sowieso nicht ganz ungefährlichen Angelegenheit kommt es trotz vieler Vorsichtsmaßnahmen der Behörden leider schon fast regelmäßig zu Gewaltausschreitungen. Aufgeputscht durch den ritualisierten Kampf und den in Mengen genossenen Reiswein bewerfen sich nicht nur beide Seiten gegenseitig, sondern die Ziegelsteine fliegen auch in Richtung der schnell einschreitenden und zahlreichen Polizisten. Entfernt fühlte ich mich an den 1. Mai in Berlin erinnert: Die meisten Schaufensterläden waren schon präventiv mit massiven Platten geschützt und Jugendliche lieferten sich bis spät in die Nacht ein Katz- und Mausspiel mit der Polizei, die neben Tränengas aber auch Gummigeschosse einsetzte.

Am vierten Tag des Festes, dem letzten Tag des Jahres, wird mit vielen langen Tauen und Stützen ein etwa 25 Meter hohe Baumstamm aufgestellt. Der Stamm mit einem Querbalken und zwei langen Bannern daran gilt als göttliches Symbol und durch das Aufrichten wird der für das neue Jahr allgegenwärtig wichtige Zeugungsakt zwischen den schützenden Göttern symbolisiert. Die Leute schütten sogar Flüssigkeit in das große Felssteinrund, in dem der Stamm aufgerichtet wird, um das Gelingen des Aktes zu unterstützen. Solche Riten der Erneuerung und Wiedergeburt haben zur Begrüßung eines guten neuen Jahres einen hohen spirituellen Stellenwert bei den Stadtbewohnern. So hoch, dass manche keine Angst davor haben, bei diesem Akt zu Schaden zu kommen – wie beim diesjährigen Fest leider geschehen. Als sich der riesige Stamm endlich aufrichtete, zerbarst er in der oberen Hälfte und das in die Menschenmenge fallende Teil führte zum Tode von mindestens fünf Personen. Da so etwas öfter vorkommt, liegt bereits ein Ersatzstamm bereit, der am nächsten Tag zum Glück ohne weitere Unfälle aufgerichtet werden konnte.

Neben diesen eher spektakulären Ereignissen sind aber noch viele andere Dinge über Land und Leute bemerkenswert. Seltsam für uns Mitteleuropäer ist das völlig andere Verhältnis zu Nähe. Man hat dort keine Scheu sich eng neben wildfremde Menschen zu setzen oder mit einem anderen Mann Händchen zu halten. Bemerkenswert ist die allgemeine Freundlichkeit und – abgesehen von den genannten Ausschreitungen und anderen Ausnahmen wie Taschendiebstahl – die Friedfertigkeit der Leute. Man erfährt natürlich auch viel Entgegenkommen, weil man von den zum Teil sehr armen Menschen in Nepal häufig als „Geld auf Beinen“ angesehen wird. Andererseits habe ich auch völlig selbstloses Wohlwollen erlebt: Gleich mehrmals bin ich von Menschen, die ich mehr oder weniger auf der Straße getroffen habe, so herzlich eingeladen worden, dass sich daraus wunderbare Erlebnisse und sogar Freundschaften ergeben haben.

Als ich eines Tages den Hof eines kleinen Tempels betrat, in dem grade ein Essen aufgetischt wurde, bin ich in eine Hochzeitsgesellschaft geraten. Bald sah ich mich zu leckeren Curry-Speisen eingeladen. Da die Gesellschaft aus Brahmanen bestand, also einer sehr hohen Kaste, wurde sogar mit Besteck gegessen, was bei den einfachen Leuten sonst eher unüblich ist. Ich lernte drei junge Geschäftskollegen des Bräutigams näher kennen, mit denen ich mich in Englisch verständigen konnte Ihr großes Interesse an mir führte zu einer Einladung zur Hochzeitszeremonie. Wir fuhren in einem bestellten Bus auf ein Erfrischungsgetränk zum Haus des Bräutigams. Nach einer halben Stunde Fahrt mit viel nepalesischem Gesang meiner neuen Bekannten fand ich mich in der Stadt Patan in einem kleinen Raum mit den Verwandten und Freunden des neuen Paares wieder. Es war zwar alles etwas steif, dennoch fühlte sich der frisch Vermählte sehr geehrt, sodass er mich für den folgenden Tag zu einem weiteren Essen einlud. Diesem Angebot kam ich gerne nach und hatte nach dem leckeren scharfen Essen noch einen sehr lustigen Abend mit seinen drei netten Kollegen in einer Bar. Wir nahmen uns gemeinsam ein Gästezimmer in der Stadt – wobei sich zwei von ihnen sogar ein Bett teilten.

Eine andere interessante Bekanntschaft machte ich, weil mich der Angestellte eines Touristenbüros fragte, ob ich Didgeridoo spielen könne. Da war ich zunächst doch etwas erstaunt, denn damit, dass hier jemand das Instrument der australischen Ureinwohner spielt, darauf wäre ich nie im Leben gekommen. Da ich zufällig die für das Instrument verwendete Zirkular-Atmung beherrsche, verabredete ich mich mit dem jungen Mann namens Suresh bei ihm zu Hause, damit ich ihn darin unterweisen könne. Aus dieser Begegnung entwickelte sich in zwei Wochen und vielen netten Begegnungen eine echte Freundschaft, sodass ich Suresh und einige seiner Freunde auf einem Leihmotorrad zu einem Ausflug in die Hügel (so sagt man dort, weil sie „nur“ 2.000 Meter hoch sind) begleitete. Und was ich dort erlebt habe, hätte ich mir niemals erträumt: In einem kleinen Gasthaus, das sich „Restaurant at the End of the Universe“ nannte, saßen wir bis spät in die Nacht und hatten eine Musiksession mit Gitarre, Flöte, mehreren Didgeridoos und einigem des heimischen Grases. Da es dort keine Blättchen gibt, stopft man geleerte Zigarettenhülsen interessanterweise, in dem man die Mischung einsaugt. Den Filter lässt man dabei einfach drin. Am nächsten Morgen war uns das Wetter wohl gesonnen und die Wolken gaben den Blick auf die über 6.000 Meter hohe Gebirgskette des Himalajas frei. Leider hieß es einen Tag später Abschied nehmen. Neben viel nettem Touri-Schnickschnack brachte ich auch viele wunderschöne Erinnerungen aus Nepal mit nach Hause.

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