Positionsbestimmung des INDRO e.V. zur aktuellen Drogenpolitik und Drogenhilfepraxis
zu den Autoren: Leitung des Indro e.V. Münster
Das niedrigschwellige Drogenhilfezentrum des Indro e.V. ist seit über 20 Jahren im niedrigschwelligen, akzeptanzorientierten Drogenhilfebereich in Münster tätig.
Folgende Angebote werden vorgehalten: Niedrigschwellige Drogenarbeit im Kontaktladen, Drogenkonsumraum, Spritzentausch, Medizinische Akutversorgung, Infektionsprophylaxe und Safer Use, Mobile Spritzenentsorgung, Ambulant Betreutes Wohnen für Substituierte, Psychosoziale Unterstützung für Substituierte, Migrantenarbeit, Szenenahe Frauenarbeit, Infostelle für Auslandsreisen für Substituierte, Veröffentlichungen zur Akzeptanzorientierten Drogenarbeit und qualitativen Drogenforschung.
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Positionsbestimmung
Gegenwärtig erleben wir vielfältige sozialräumliche Strategiemaßnahmen zur Auflösung von öffentlichen Drogenszenen sowie manifeste und/oder latente Kontroll- und Überwachungsformen im Rahmen der praktischen Drogenhilfe. Dies erschwert immer mehr eine vertrauensbezogene, anonyme Beziehung zum Konsumierenden im Kontakt-, Beratungs- und Betreuungsprozess. Hochschwellige, rigide Zugangskriterien und video- und computergestützte Identifikationsüberwachungen in einigen Konsumräumen sowie bei der staatlich kontrollierten Heroinvergabe werden als notwendige Voraussetzungen angesehen.
Verpflichtende, sucht- und sozialtherapeutisierende, modulgestützte, mit Hilfeplänen, „Eingliederungsvereinbarungen“ und „Verpflichtungserklärungen“ unterfütterte Begleitbetreuungen beispielsweise im Rahmen von Substitutionsbehandlungen sind inzwischen fast „Standard“. Bedrohliche, dem „Sensation Seeking“ unterworfene Zahlenkolonnen zum sog. Komasaufen von Jugendlichen, zum Konsum von Methamphetamin (Crystal), zum problematischen Konsum angeblich hochpotenter Cannabisprodukte von seit 1972 (BtMG) immer jünger werdenden Jugendlichen werden wellenförmig und drameninszenierend fast wöchentlich dem ängstlichen Publikum medial präsentiert. Politiker unterliegen gebannt der Faszination der „großen Zahlen“ und fordern unisono im Wechsel weitere Verbote und/oder präventive Zugriffsweisen als Allheilmittel.
Innerhalb der „leistungsvereinbarten“ Drogenhilfe ist von Akzeptanz drogenbezogener Lebensführung, von Ko-Produktion im interaktiv-kommunikativen Aushandlungsprozess, von Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit drogenkonsumierender Menschen kaum mehr die Rede im gegenwärtigen Mainstream drogenhilfepraktischer Strategien modulgestützter Frühinterventionsmaßnahmen als Persönlichkeits- und Verhaltensänderungsbeeinflussungen in Richtung Abstinenz.
Gängig ist inzwischen auch, psychoaktiv wirksame Substanzen pauschal als „Suchtmittel“ zu bezeichnen und somit öffentlich das pathogene Suchtkonstrukt zu zementieren. Eine derartige Kategorisierung negiert jedoch, dass Menschen psychoaktiv wirksame Mittel kaum konsumieren, um bewusst krank und süchtig zu werden. Zudem suggeriert diese substanzbezogene Etikettierung, es handele sich hierbei um ein „Mittel“, welches automatisch zur Ausbildung einer Sucht führe. Es ist jedoch immer der jeweilige Konsument, der einen bestimmten, auch kontextgebundenen „Zweck“ mit dem Konsum von psychoaktiv wirksamen Substanzen verbindet und vielfach auch entsprechende, gesellschaftlich anerkannte und nicht sanktionierte Konsummuster (sprich: autonom kontrollierte Gebrauchsformen) entwickelt.
Die Geschichte der Drogenhilfe zeigt zudem:
Wo sogenannte „Klienten“ ausbleiben, werden eifrig Problembereiche konstruiert, um neue „Klienten“ zu rekrutieren. Drogenhilfe ist immer auf „Problemnachschub“ und somit auf Bestandserhaltung und -erweiterung angewiesen.
Für die Zukunft ist also kaum zu erwarten, dass der sanktionierte Gebrauch psychoaktiv wirksamer Substanzen „den Status eines sozialen Problems“, „als Kampfplatz für Professionsinteressen“ und Drogenhilfe ihre Funktion sozialer Kontrolle und einer „erzwungenen“ Abstinenzorientierung verliert. Wir als Drogenhilfe werden auch in der Zukunft die Probleme erzeugen, die zu verhindern bzw. „in den Griff“ zu kriegen, wir inzwischen selbstverständlich auch „evidenzbasiert“ und wirksamkeitsbezogen versprechen.
Drogenhilfe und Drogenpolitik ersticken gegenwärtig quasi in Bürokratisierungen, Nationalen Drogen- und Suchträten, Qualitätssicherungsabläufen, Evaluationen, Rechtsverordnungen, Rahmenzielvereinbarungen, Projektkonferenzen, inflationären Leitlinien und standardisierten Qualitätshandbüchern, wichtigen Positionspapieren, Eckpunkten für irgendwelche Aktions- und Suchtpläne, Runden und Eckigen Tischen, Ordnungspartnerschaften, Drogenkongressen, Lenkungsausschüssen, Problembearbeitungs- und Ethikkommissionen und Modulen für alles Mögliche.
Akzeptanz drogengebrauchender Menschen?
Nein, nur mehr qualitätsgesicherte und evidenzbasierte Kontrollregeln auf den Kontrolltürmen sozialpädagogischer, therapeutischer, medizinischer und ordnungspolitischer Problembearbeitungsinstitutionen.
Dabei sollte es doch bekannt sein: Das eigentliche Problem ist die Illegalisierung der Substanzen, die Drogenprohibition, die erst die gepanschten und gestreckten Substanzen, die häufig unwürdigen und unhygienischen Lebens- und Konsumbedingungen, die Drogenmythen und Drogenphobien sowie die Illegalität des profitablen Drogenmarktes schafft.
„Prohibition ist das größte Förderprogramm für die organisierte Kriminalität“,
so formulierte es einmal ein Polizeipräsident in der Bundesrepublik.
Das niedrigschwellige Drogenhilfezentrum Indro e.V. unterstützt das Memorandum des Schildower Kreises, ein Zusammenschluss kritischer Wissenschaftler und Praktiker. Prohibition soll den schädlichen Konsum bestimmter Drogen verhindern. Tatsächlich kann sie dieses Ziel nicht erreichen. Das zeigen alle wissenschaftlich relevanten Untersuchungen. Sogar die Evaluation des 10-Jahres-Programms der UNO von 2008 zur Drogenbekämpfung kommt zu diesem Schluss¡K.Prohibition schreckt zwar einige Menschen ab, verhindert aber Aufklärung und vergrößert gleichzeitig dramatisch die gesundheitlichen und sozialen Schäden für diejenigen, die nicht abstinent leben wollen. Selbst in totalitären Regimen und Strafanstalten kann Drogenkonsum nicht verhindert werden.
Die Komplexität des Hilfesystems, die internationalen Gesetze, der „erfolgreiche“ amerikanische Drogenkrieg, die vorherrschende drameninszenierende „Drogenmoral“, die therapeutische, sozialpädagogische und präventiv-früherkennende Definitionsmacht mit ihrem inzwischen unüberschaubaren Diagnose- und Methodenarsenal, und die problemkonstruierende Wissenschaft stehen einer wirklichen drogenpolitischen „Veränderung“ entgegen.
Das „politische“ Kernmuster wiederholt sich – historisch gesehen – stets auf die gleiche Weise: „Am Anfang steht die Angst – die Angst vor dem Unkontrollierbaren und Fremden, vor sozialer Entgleisung und Verwahrlosung.
Diese Angst erzeugt Verbote, diese Verbote erzeugen illegale Märkte, die illegalen Märkte erzeugen lukrative Gewinnspannen, und lukrative Gewinnspannen erzeugen eine entsprechend skrupellose Kriminalität mit all ihren Folgen der sozialen Ausgrenzung und Verelendung. Es entsteht eine Wechselwirkung: Kriminalisierung durch Dämonisierung, Dämonisierung durch Kriminalisierung. An der Tatsache und gleichsam faktischen Realität, dass die Menschen zu allen Zeiten, in allen Kulturen und in allen Gesellschaftsschichten immer wieder auf den Gebrauch von Drogen (oder rauscherzeugenden Substanzen) zurückgegriffen haben, ändert das wenig“ (von der Heydt: Rauchen Sie? Verteidigung einer Leidenschaft, Köln 2005, S.186).
Im 19. Jahrhundert war der Konsum und Handel beispielsweise mit Opiaten, Kokain und Cannabis weder strafbar noch moralisch verpönt. Die moralische, politische und rechtliche Umwertung bis hin zum globalen Verbot durchlief soziologisch gesehen die klassischen Phasen: Legitimität, In-Frage-Stellung der Legitimität durch „moralische Unternehmer“ (H.S. Becker: Moralische Unternehmer, in: Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, Frankfurt 1973, S.133-148), öffentliche Problemthematisierung, nationale und internationale Problematisierung, Verbote und strafrechtliche Verfolgung, internationale Konventionen zur Eindämmung und Verhinderung des Drogengebrauchs und damit Ausweitung /Verfestigung des illegalen Marktes, Verschärfung der Repression sowie Auf- und Ausbau eines Hilfe-, Präventions-, Wissenschafts- und Verwaltungssystems nebst globaler „Problembeobachtungsstellen“.
Alles ungeheuer teuer, wenig effektiv im Sinne der anvisierten „Eindämmung“ des Gebrauchs illegalisierter Drogen und insofern höchst kontraproduktiv.
„Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden jährlich vierhundert bis fünfhundert Milliarden US Dollar Umsatz im Geschäft mit Drogen getätigt. Da die Produktionskosten nur etwa ein Prozent des Straßenhandelspreises betragen, sind die Profitraten der Drogenindustrie enorm. Die Gewinne krimineller Organisationen im Drogenhandel übersteigen das Bruttosozialprodukt vieler Staaten. Weltweit werden von Regierungsseiten annähernd vierzig Milliarden Euro pro Jahr für eine ineffektive, kontraproduktive Drogenpolitik ausgegeben. Ein Umdenken bei den globalen Strategien zur Drogenpolitik ist dringend nötig“ (Akzept e.V.: Drogenpolitik: Neue Wege gehen, in: Sozialmagazin 6/ 2008, S. 62).
Insofern bleibt es stets dabei: Der sanktionierte Gebrauch psychoaktiv wirksamer Substanzen wird weiterhin moralisch bewertet, präventiv vermieden, niedrigschwellig begleitet, therapeutisch und medizinisch behandelt, juristisch verurteilt und weltweit politisch verwaltet, wobei mitunter die Moral selbst zum Betäubungsmittel mutiert.
Die Illegalisierung der Substanzen und Kriminalisierung der Konsumenten verhindern im Verbund mit der systemimmanenten Asymmetrie der Denk- und Handlungssysteme von Konsumenten und Drogenhilfeexperten grundsätzliche Akzeptanz. Dies begünstigt und unterstützt im „Handlungssystem“ Drogenhilfe weiterhin die Aufrechterhaltung bestimmter Konsumentenbilder: Sie sind defizitär, krank, hilfs- und behandlungsbedürftig, störungsgeschüttelt, nicht vertrauenswürdig, link, Lügner, Abzocker, Kriminelle, verführte und/oder arme Opfer etc. Zwingend werden immer neue Kontrollregeln und „Zuschreibungsgefängnisse“ im institutionellen Rahmen der Drogenhilfe entwickelt und umgesetzt, was in unserem kontrollorientierten Handlungssystem Drogenhilfe sicher logisch erscheint, aber Akzeptanz unmöglich macht. Und hier sollten wir ehrlich sein.
Ziehen wir ein vorläufiges Resümee:
Die drogenhilfepraktische und drogenpolitische Aufbruchstimmung, die etwa mit der Konzeptualisierung und Umsetzung einer akzeptanzorientierten anstelle einer rein abstinenzbezogenen Drogenhilfe verbunden war, weicht mehr und mehr einer verschwommenen Methodisierung zur „Herstellung“ von gewünschter Veränderungsmotivation. Eine subtil „verkaufte“ Medizinalisierung und Psychiatrisierung zwanghafter und exzessiver Gebrauchsmuster (Stichworte: Chronisch mehrfach beeinträchtigte Abhängigkeitskranke, Ko-morbidität, multi-morbide Heroinabhängige, schwerstabhängige Cannabiskonsumenten) tritt zunehmend in den Vordergrund. Drogenpolitische Äußerungen innerhalb der Drogenhilfe werden immer weniger. Es verwundert von daher nicht, dass innerhalb der Drogenhilfe eine Art drogenpolitische Lähmung beobachtbar ist.
Zudem werden drogenhilfepraktische und suchtpräventive Maßnahmen zurzeit allerorten in managementbezogene Sprachspiele und eine Terminologie verpackt, deren Zentralvokabeln Wirksamkeit, Effizienz, Leistungs- und Zielvereinbarungen, Qualitäts-Standards, Optimierungsmanagement (wohin eigentlich?) und Ähnliches sind, mit denen eine Verdinglichung „hergestellt“ und eine Machbarkeitsillusion suggeriert wird. Auswirkungen dieser Ökonomisierung von Drogenhilfe sind beispielsweise neben aufsichtsratsgestützten Konzernbildungen von Drogenhilfeeinrichtungen (wobei kleinere Einrichtungen langsam vom wachstumsorientierten Hilfemarkt verschwinden) einrichtungsbezogene „Unterwerfungsrituale“ der Mitarbeiterinnen, denn der so strukturell „produzierte“ selbstmodellierende Optimierungsprozess führt zu einem permanenten Zustand der Verunsicherung und Kritisierbarkeit und erzeugt psychische Daueranspannung im Prozess der Selbst- und Fremdevaluation.
Die „Doppelzange aus Markt und Bürokratie“ (Klaus Dörner: Gesundheitssystem: In der Fortschrittsfalle, in: Dtsch Ärzteblatt 2002; 99;38) bestimmt inzwischen weitgehend den auch vor Stellenstreichungen und Gehaltskürzungen angstbesetzten Arbeitsalltag.
Eine Änderung wäre nur über eine grundlegende Reform der gegenwärtigen Dogenverbotspolitik möglich als die (globale) staatliche und damit „qualitätsgesicherte“ Regulierung des Drogenmarktes u.a. durch Qualitätskontrollen im Sinne einer Produkthaftung, durch Jugendschutzbestimmungen und akzeptanzorientierte Verbraucherbegleitung. Wenn schon Verbote und verpflichtende Maßnahmen im Sinne erzieherischer Sanktionen als „Instrumente zur Steuerung des Konsumverhaltens für legitim erachtet werden, warum werden sie dann nicht zur Steuerung der Produktion eingesetzt?“ (Amendt, G.: Drogenpolitik – Dafür gibt´s was auf die Pfoten, in: WOZ Nr. 49/2007 vom 06.12.2007)
Missbräuchliche Drogengebrauchsmuster oder die Entwicklung süchtigen Verhaltens sind nicht per Dekret oder per Verordnung, nicht durch moralische Beeinflussungen und modulare Angstszenarien abschaffbar, schon gar nicht durch Strafandrohung und (sanfte) Abschreckungsstrategien. Wir werden damit leben müssen, dass es Drogengebrauch und auch Drogenmissbrauch immer geben wird. Der idealistische Traum von einer drogenfreien Gesellschaft ist zwar legitim, jedoch illusorisch. Zur Erinnerung: Etwa 5-7% der Erwachsenen konsumieren zwanghaft und exzessiv – trotz aggressiver „Kaufregung“, Wachstumsförderungsgesetze, „Leistung aus Leidenschaft“, allumfassendes Controlling, Sensation Seeking (schneller, weiter, höher), trotz permanenter Werbeberieselung, trotz als dürftig beklagter Suchtprävention, trotz Ballermänner auf Mallorca und anderswo sowie Oktoberfesten in Deutschland inklusive legalen, d.h. gesellschaftlich akzeptiertes Komasaufens als Gemeinschaftsereignis, trotz ungeheurer Wachstumsraten der Pharma-Industrie bei der „legalen“ Drogenproduktion und trotz gesellschaftlicher Problem-, Krisen-, Konflikt- und Defizitlagen.
Die Mehrheit vermag anscheinend ihren Konsum selbst – auch genussorientiert – zu kontrollieren und dies sollte auch Bezugspunkt präventiver Maßnahmen sein, d.h. es ginge dann um die moderierende Unterstützung hinsichtlich eines selbstgestaltenden, genussfähigen und kompetenten Umgangs mit psychoaktiv wirksamen Substanzen jenseits eines rein defizitbezogenen Missbrauchs- und Problemblickes.
Voraussetzung hierfür ist allerdings eine radikale Umgestaltung der gegenwärtigen globalen Drogenverbotspolitik.
Hören wir da irgendwo Sisyphos ächzen?