Samstag, 30. Dezember 2017

Ein Schuss – der Freiheit ins Genick

Seine Meinung – Sadhu van Hemp

 

 

Nicht immer sind Polizisten unsere Freunde und Helfer, für die sie sich gerne ausgeben. Oftmals bekommen die Bürger das genaue Gegenteil zu spüren, wie zum Beispiel der mutmaßliche Cannabisfachhändler André Borchardt, der am 25. Juli 2014 in Burghausen von einem Zivilpolizisten von hinten per Kopfschuss füsiliert wurde. Polizeigewalt ist in Deutschland an der Tagesordnung – und nur ein Bruchteil der von Polizisten verübten Gewaltexzesse führt zu einer Verurteilung.

 

Der gewaltsame Tod des damals 33-jährigen André Borchardt ist nur einer von vielen, die auf das Konto der Polizei gehen, ohne dass die Justiz dafür eine ordentliche Quittung ausgestellt hätte. Im Februar 2016 entschied die Staatsanwaltschaft im bayerischen Traunstein, keine Anklage gegen den Todesschützen von Burghausen zu erheben. Das war auch ganz im Sinne der Gewerkschaft der Polizei von Oberbayern Süd, die die Einstellung des Verfahrens lautstark begrüßt hatte. Die Mutter des Opfers, die gemeinsam mit ihren Anwälten Beschwerde gegen die Entscheidung eingelegt hatte, war chancenlos gegen den Korpsgeist von Polizei und Justiz. Auch alle Versuche, von Menschenrechtsorganisationen und Politikern unterschiedlicher Parteien Unterstützung zu erhalten, um auf diesem Wege ihrem Sohn doch noch so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, liefen ins Leere.

 

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft war der Polizeibeamte, der den davonlaufenden André Borchardt von hinten niederschoss, gemäß seiner polizeilichen Aufgabenerfüllung ermächtigt, im Rahmen der Vorschriften unmittelbaren Zwang auszuüben und physische Gewalt anzuwenden. Im Fall Borchardt gab es für die Staatsanwaltschaft keinen Zweifel daran, dass sich der Beamte an das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Willkürverbot gehalten hat. Somit wurde rechtmäßig gehandelt, als die blaue Bohne den Lauf des Schießeisens verließ und den unbewaffneten mutmaßlichen Grasdealer hinterrücks im Kopf traf und tötete.

Mittlerweile sind für die Mutter des von Polizistenhand getöteten Sohnes alle Fristen abgelaufen, um zumindest noch den Weg über ein Klage-Erzwingungsverfahren zu gehen und den Beamten für seine mehr als zweifelhafte Dienstauffassung zur Verantwortung zu ziehen.

 

Schießwütige Polizisten haben in Deutschland nur sehr selten strafrechtliche Konsequenzen zu fürchten. Und kommt es mal zur Anklage und zum Prozess, dann ist für den Polizeibeamten noch lange nichts verloren. Auch in Gerichtssälen hackt die eine Krähe der anderen kein Auge aus. Wie damals vor fünfzig Jahren im November 1967, als Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras pro forma der fahrlässigen Tötung angeklagt wurde und die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin die Schuldfrage klären sollte.

 

Kurras war am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des Schah von Persien in Westberlin als ziviler „Greifer“ eingesetzt, der Rädelsführer der Studentenszene festnehmen sollte. Nachdem die Polizei entgegen der Weisung des Regierenden Bürgermeisters die angemeldete Versammlung mit aller Härte aufgelöst hatte, kam es im Innenhof des Hauses Krumme Straße 66/67 zu einem tödlichen Kopfschuss – abgefeuert aus Kurras’ Dienstwaffe. Dies geschah aus kurzer Distanz in den Hinterkopf des 26-jährigen Studenten Benno Ohnesorg, der gerade von drei Beamten festgehalten und verprügelt wurde. Ohnesorg starb auf dem Weg ins Krankenhaus, nachdem die Polizei einem Arzt daran gehindert hatte, noch vor Ort Erste Hilfe zu leisten.

 

Was dann geschah, ist ein Lehrstück des Vertuschens und Manipulierens. Bereits im Krankenhaus ereignete sich Rätselhaftes: Auf Weisung des Chefarztes wurde als Todesursache im Totenschein eine „Schädelverletzung durch Gewalteinwirkung mit einem stumpfen Gegenstand“ angegeben. Bei der Obduktion des Leichnams wurde am nächsten Morgen festgestellt, dass die Polizeikugel im Kopf belassen wurde, aber das Schädelstück mit dem Einschussloch herausgesägt und die Haut darüber zugenäht war. Das entfernte Stück der Schädeldecke blieb verschwunden – und die nachtaktiven Klinikärzte mussten sich nicht erklären.

 

Kurras selbst, der 2009 als DDR-Spion enttarnt wurde, zeigte sich unbeeindruckt angesichts seines begangenen Totschlags. Zumal er sich auf der sicheren Seite fühlte und sich der Unterstützung seiner Kollegen gewiss sein konnte. Die Gewerkschaft der Polizei spendete für seine Verteidigung 60.000 DM. Siegessicher präsentierte er der Presse freimütig drei Versionen des Tathergangs. Mal war es nur ein Warnschuss, dann waren es zwei. Zuletzt sprach er von einem Warnschuss und einem zweiten versehentlich gelösten Schuss. Schließlich phantasierte er, dass er am Boden lag und von einer Gruppe Demonstranten mit Messern angegriffen wurde. „Wenn ich gezielt geschossen hätte, wie es meine Pflicht gewesen wäre, wären mindestens 18 Mann tot gewesen.“ Bis zum Ende Prozesses hielt er an dieser Version fest.

 

Die Hauptverfahren selbst war eine Farce. So wurden die von der Kriminalpolizei bereits befragten Kollegen von Kurras, die unmittelbaren Zeugen und Beteiligten des Vorgangs in der Krummen Straße nicht mehr gehört. Ans Licht kam hingegen, dass es am Tatort keine Spurensicherung gegeben hatte, das Magazin der Dienstwaffe von Kurras ausgetauscht worden war und ein zweites Projektil und eine Hülse nicht gefunden wurden.

Der Aussage eines neunjährigen Jungen, der vom Küchenfenster der elterlichen Wohnung aus das Geschehen beobachtet hatte, wurde kein Glauben geschenkt. Der Junge gab an, weder ein Messer noch einen Kampf zwischen Ohnesorg und Kurras gesehen zu haben. Ebenso wenig wurde das Tonband eines Journalisten als Beweismittel zugelassen, auf dem nur ein Schuss zu hören ist.

Am 21. November 1967 wurde Karl-Heinz Kurras freigesprochen. Die Strafkammer des Landgericht Moabit stellte in der Urteilsbegründung fest: „Die Tötung war eindeutig rechtswidrig.“ Kurras habe objektiv falsch gehandelt. Es sei aber „nicht widerlegbar, dass er sich in einer lebensbedrohlichen Lage glaubte“.

 

Nachdem der Bundesgerichtshof im Oktober 1968 in der Revisionsverhandlung das Urteil wegen unzureichender Beweisaufnahme aufgehoben hatte, begann am 20. Oktober 1970 vor dem Landgericht Berlin ein neuer Prozess gegen Kurras. Das Gericht würdigte bislang ungenutztes Beweismaterial und stellte fest, dass es keine Bedrohungssituation durch mit Messern bewaffnete Demonstranten gegeben habe. Dennoch fand die Kammer keine Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Tötung des Studenten. Die Mauer des Schweigens brach nicht. Kurras wurde am 22. Dezember 1970 erneut freigesprochen. Der Richter gab dem Todesschützen mit auf den Weg: „Menschliches Fehlverhalten oder moralische Schuld: Das haben Sie mit sich selbst und dem Herrgott auszumachen und die Last selber zu tragen. Ihnen eine strafrechtliche Schuld nachzuweisen, waren wir nicht in der Lage.“

 

Vielleicht war die Kammer auch nicht willens, Kurras’ Schuld nachzuweisen, ebenso wie Jahrzehnte später die Staatsanwaltschaft in Traunstein, die gar nicht erst auf die Idee kam, die Schuldfrage im Fall André Borchardt zu stellen. Als hätte sich die Erde in letzten fünfzig Jahren nicht gedreht, scheint es so, als könnten Polizeibeamte nach wie vor nach eigenem Gutdünken harmlosen Bürger das Licht ausknipsen, ohne Konsequenzen zu fürchten. Von einem Aufschrei der Bevölkerung wie damals 1967, als sich massiver Widerstand gegen den „Staat im Staate“ formierte, ist nichts zu hören. Der Totschlag an Benno Ohnesorg war das Fanal der 68er-Studentenrevolution – André Borchardt Erschießung durch einen Polizisten hingegen war nur schrecklich und sinnlos dazu, da die Opfer der Cannabisprohibition von der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden. Für Benno Ohnesorg wurde am Tatort eine Gedenk- und Informationsstele errichtet. Für André Borchardt gibt es nicht einmal eine Gedenktafel, die an die grausamen Geschehnisse in der Burghauser Herderstraße erinnert.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei

Schnelles Login:

3 Kommentare
Ältester
Neuster Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare zeigen
Dorfkrug Rutenberg
6 Jahre zuvor

Das Problem der deutschen Justiz und Verwaltung ist folgendes:
Es gab nie eine Aufarbeitung des NS-Regimes innerhalb beider Organisationen.
Bis auf die leitenden Funktionen (diese wurden in die Geheimdienste strafversetzt), wurden ALLE komplett in die neue Demokratur übernommen.
Behördenstellen werden traditionsgemäß weitervererbt oder von der Wirtschaft gesponsort.

Rainer Sikora
6 Jahre zuvor

Die wirklich Kriminellen werden ausgezeichnet und verehrt und von der Polizei geschützt und unterstützt.Andersrum wird die Polizei von den eigentlichen Verbrechern gefördert und ebenso geschützt und unterstützt.Die wirklichen Mörder morden mit Hilfe der Polizei oder Soldaten und ernten Lob für die Beseitigung unserer angeblichen Feinde.Wer unsere Feinde sind erfahren wir auch im tv oder BZ.

Richard Goldschmidt
5 Jahre zuvor

Die Menschenwürde steht über der Strafverfolgung: Soweit ich informiert bin konnte man André Borchardt bis heute nicht nachweisen, dass er erneut mit Marihuana gehandelt hat. Er wurde also nicht nur wehrlos, sondern auch unschuldig vor den Augen spielender Kinder durch einen Schuss in das Genick getötet. Ein fünfjähriges Mädchen befand sich im Schussfeld. Der Todesschütze wurde nicht einmal angeklagt, weil das Verfahren gegen ihn eingestellt wurde. Ich weiß, dass es in diesem Land auch viele gute Polizisten gibt, aber es wird NIEMALS richtig sein, einen unschuldigen und wehrlosen Menschen zu töten. Die Menschenwürde und das Recht auf Leben stehen in der Verfassung ganz klar ÜBER dem Recht des Staates auf Strafverfolgung (Artikel Eins des Grundgesetzes). Außerdem sind alle Menschen gleich… Weiterlesen »