Donnerstag, 30. Juni 2011

Zum Haare ausreißen

Franjo Grotenhermen ist Vorstand und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin

THC bei Trichotillomanie
Vor etwa 120 Jahren prägte ein französischer Hautarzt erstmals den noch heute medizinisch gebräuchlichen Begriff für ein Erscheinungsbild, bei dem sich die Betroffenen die eigenen Haare ausreißen. Dieser Ausdruck, die Trichotillomanie, besteht aus den griechischen Begriffen für Haar (thrix), rupfen (tillein) und Wahnsinn (mania). Erst vor 25 Jahren wurde die Trichotillomanie als eigenständiges Krankheitsbild erkannt.

An der Klinik für Psychiatrie der Universitätsklinik von Minnesota in Minneapolis in den Vereinigten Staaten wurde vom November 2009 bis Dezember 2010 die Wirksamkeit von THC bei dieser Krankheit untersucht. Dazu erhielten insgesamt 14 Frauen mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren im Rahmen einer 12-wöchigen Studie täglich, je nach Verträglichkeit 2,5 bis 15 mg THC. Zwölf der 14 Patientinnen beendeten die gesamte Studie. Es fand sich eine deutliche Besserung der Beschwerden nach einer Skala, die die Stärke der Symptome der Trichotillomanie misst. Von den Teilnehmern sprachen neun gut auf die Behandlung an, mit einer Reduzierung der Symptome um mehr als ein Drittel beziehungsweise einer starken oder sehr starken Verbesserung nach dem Eindruck der Ärzte. Die mittlere wirksame Dosis betrug etwa 12 mg THC. Das Medikament wurde gut vertragen.
Es ist auffällig, dass in den vergangenen Jahren vermehrt Hinweise gefunden wurden, dass THC beziehungsweise Cannabis bei einer Anzahl psychiatrischer, oft verwandter Erkrankungen beziehungsweise psychologischer Probleme und nicht nur bei körperlichen Erkrankungen wirksam sein können. Dazu zählen Angststörungen, posttraumatische Stressstörungen, die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Autismus, einige Fälle von Schizophrenie, Zwangststörungen und Depressionen.

Bei der Trichotillomanie reißen sich die Betroffenen vor allem die Kopfhaare, seltener auch andere Haare aus. Typisch sind daher kahle Stellen am Kopf. Häufig werden die Haare heruntergeschluckt. Oft beginnt die Erkrankung während der Pubertät, sie kann jedoch auch früher oder später beginnen. Die Störung kann mehrere Monate oder Jahre andauern. Die Prognose der Erkrankung ist günstig, was bedeutet, dass die meisten Betroffenen dieses Verhalten wieder einstellen. Im Unterschied zu Zwangststörungen geben die meisten von einer Trichotillomanie betroffenen Personen an, sich ihrer Handlung nicht bewusst zu sein. Zwangststörungen sind dagegen durch belastende Zwangsgedanken und damit verbundene Zwangshandlungen (Aufgaben oder „Rituale“), die die Zwangsgedanken neutralisieren sollen, charakterisiert. Bei der Trichotillomanie gibt jedoch nur ein kleinerer Teil der Betroffenen einen intensiven Drang für das Ausreißen der Haare an.
Wie bei vielen psychiatrischen Störungen können die Auslöser traumatische Erlebnisse (Tod der Eltern, Missbrauch, etc.) sein. Oft leiden die Betroffenen unter einem verminderten Selbstwertgefühl und einer verminderten Resistenz gegen Stress. Lange Zeit wurde die Erkrankung als schlechte Gewohnheit fehlinterpretiert. Auch heute kann die Erkrankung zu Stigmatisierung, einer schweren Beeinträchtigung der Lebensqualität und sozialer Isolation führen.
Bei der Behandlung kommen Psychotherapie und verschiedene Medikamente (Antidepressiva, Neuroleptika, angstlösende Medikamente) zum Einsatz.
Mit THC beziehungsweise Cannabis eröffnet sich nun offenbar eine weitere Behandlungsmöglichkeit. Allerdings handelt es sich bei dieser Studie um die erste dieser Art bei Patienten mit Trichotillomanie. Wie bei vielen der oben genannten psychiatrischen Erkrankungen gibt es daher bisher erst eine so kleine wissenschaftliche Datenbasis, dass sie von vielen Ärzten nicht ausreichend ernst genommen wird.

Erinnert sei an dieser Stelle daran, dass viele Menschen mit ADHS von Cannabisprodukten profitieren, bisher allerdings noch keine einzige Studie durchgeführt wurde. Ähnlich sieht es bei Zwangsstörungen aus . Über ihre ausgezeichneten Erfahrungen mit der Verwendung von THC bei zwei Patienten mit Zwangststörungen berichteten Ärzte des Berliner Krankenhauses Charite im Jahr 2008 in der Fachzeitschrift American Journal of Psychiatry. Einer der beiden Patienten hatte die Ärzte darauf aufmerksam gemacht, dass Cannabis bei ihm sehr wirksam sei, was seine Therapeuten auf die Idee brachte, es einmal mit THC zu versuchen. Ein solcher ärztlicher Erfahrungsbericht ist aber noch keine klinische Studie.
Auch wenn die wissenschaftliche Datenlage häufig schlecht ist, so sind die Besserungen bei den Patienten oft so deutlich und für die Ärzte so eindrucksvoll, dass selbst die Bundesopiumstelle bereits Ausnahmegenehmigungen für die medizinische Verwendung von Cannabis bei Erkrankungen erteilt hat, bei denen keine klinischen Studien vorliegen, beispielsweise bei ADHS.

Dr. med. Franjo Grotenhermen
Mitarbeiter des nova Institutes in Hürth bei Köln und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM).

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