Mittwoch, 30. März 2011

Psychoaktive Pflanzen unserer Heimat

Stechapfel

Steckbrief

Datura stramonium LINNÉ
Familie:
Solanaceae (Nachtschattengewächse)

SYNONYME:
Datura bernhardii LUNDSTRÖM, Datura bertolonii PARL. ex GUSS., Datura capensis HORT. ex BERNHARDI, Datura ferox L., Datura inermis JACQ., Datura laevis L. f., Datura loricata SIEBER, Datura lurida SALISB., Datura parviflora SALISB., Datura peregrinum, Datura pseudo-stramonium SIEBER, Datura quercifolia H.B.K., Stramonium spinosum LAM., Datura tatula L., Datura villosa FERNARLD, Datura wallichii DUNAL, Stramonium ferox BOCCONE, Stramonium foetidum SCOPOLI, Stramonium spinosum LAM., Stramonium vulgare MOENCH., Stramonium vulgatum GAERTNER

Trivialnamen:
Apple of Peru, Asthmakraut, Devil’s apple, Devil’s trumpet, Dhatura, Donnerkugel, Doornappel (Holländisch), Dornapfel, Dornkraut, Gemeiner Stechapfel, Igelkolben, Jamestown weed, Jimson weed, Kratzkraut, Schlafkraut, Schwarzkümmel, Simpson Weed, Stachelnüß, Stachelnuß, Stechapfel, Stink weed, Stramonio, Stramonio commune, Stramonium, Teufelsapfel, Tollkraut, Toloache, Weißer Stechapfel, Zigeunerapfel u.v.a.

Vorkommen:
Amerika, Himalaya, Nordafrika, Mitteleuropa (auch Deutschland), Südeuropa, Orient, an Wald- und Wegrändern, auf Lichtungen und Feldern.

Botanik:
Der Stechapfel Datura stramonium ist eine einjährige, bis über einen Meter hoch wachsende, krautige Pflanze mit weißer, je nach Varietät auch lilafarbiger, aufrecht stehender, fünfzipfeliger Blüte und gezackten Blättern. Die Frucht ist eiförmig, aufrecht stehend und bestachelt. Datura stramonium bildet nierenförmigen, schwarzen Samen aus.

Wirkstoffe:
Die Tropanalkaloide Scopolamin und Hyoscyamin, Apoatropin, Belladonin, Hyoscyamin-N-Oxyd, Tropin und viele andere. In der gesamten Pflanze finden sich Tropeine in schwankender Konzentration. Blätter enthalten 0,25 bis 0,5 Prozent, Wurzeln 0,18 bis 0,22 Prozent Wirkstoffe. In der Blüte konnten bis zu 0,61 Prozent, in den Samen bis zu 0,66 Prozent Alkaloid nachgewiesen werden. In der Trockenmasse der Blätter und Samen finden sich 0,1 bis 0,6 Prozent Alkaloid.

Geschichte:
Datura stramonium wurde im 16. Jahrhundert in Europa eingeschleppt und war zusammen mit seinen Verwandten, der Tollkirsche (Atropa belladonna) und dem Bilsenkraut (Hyoscyamus niger), meist fester Bestandteil der Hexensalben und Hexenrituale. Der Gemeine Stechapfel wurde und wird auf dem europäischen Kontinent oftmals mit dem Zigeunertum assoziiert. Diese Tatsache könnte darin begründet sein, dass die rituelle Räucherung der Stramoniumsamen auf eine Tradition der Zigeuner zurückgeführt wird. Diese nutzen den Stechapfel zur Vertreibung, aber auch zur Einladung verschiedener Geister – oder auch als Orakel: „In der Andreasnacht (30. November) läßt man Stechapfelsamen draußen im Freien liegen und wirft sie dann am nächsten Morgen ins Feuer. Wenn die Samenkörner mit lautem Gekrach verbrennen, dann wird der Winter trocken, aber sehr kalt werden. (…) Die Zeltzigeuner befragen, um zu erfahren, ob ein Kranker gesund wird oder nicht, die ‚Zaubertrommel’. Eine Tierhaut wird mit Strichen versehen, von denen jeder eine besondere Bedeutung hat. Auf diese Haut werden 9 bis 21 Stechapfelsamen gestreut und diese durch ein bestimmte Anzahl von Schlägen (…) mittels eines kleinen Hammers in Bewegung versetzt. Die Lage der Körner auf oder zwischen den Strichen lässt dann auf Genesung oder den Tod des Kranken schließen. Dasselbe Verfahren wird auch bei kranken Tieren oder um gestohlenes Gut wiederzuerlangen, geübt.“i
„Die Zigeuner haben den Samen zu Orakelzwecken eingesetzt und auch als magisches Mittel zur Abwehr, zum Beispiel des Blitzes benutzt. Deshalb wurde der Stechapfel auch Donnerbeere genannt (…). Mittels gewisser Manipulationen mit dem Stechapfelsamen, glaubten die Zigeuner, Gesundheit und Tod bei Menschen und Tieren, sowie Erfolg und Misserfolg geplanter Unternehmen voraussagen zu können. Sie stellten auch ein Pulver aus Tollkirsche und Stechapfel mit der Bezeichnung ‚Dur’ her, welches sie zur Beseitigung unerwünschter Personen eingesetzt haben sollen (…). Diese Zigeuner hatten den Übernamen ‚Dhatureas’ oder Daturavergifter. Pulewka (1949) berichtete von Massenvergiftungen in der Türkei durch mit Datura stramonium verunreinigtem Brotmehl.“i
Johnston berichtete 1854 als Zeitzeuge von verschiedenen Verwendungszwecken der Datura in Europa und auf anderen Kontinenten: „Der gemeine Stechapfel (Datura Stramonium) ist in Europa lange als narkotisch bekannt. In Deutschland und Frankreich soll der Samen nicht selten zur Verübung von Verbrechen benutzt werden. In Rußland setzt man ihn zum Biere zu, um es berauschend und zu Kopfe steigend zu machen, ein Gebrauch, der früher auch in China herrschte, aber jetzt seit langer Zeit verboten ist (…).“ii
Um die betäubende Wirkung des Alkohols zu potenzieren, wurde auch in Deutschland dem Bier einige Zeit Stechapfel-Samen beigemischt.

Verwendung:
Blätter, Blüten oder die zerstoßenen Samen werden im getrockneten Zustand geraucht oder frisch gegessen. Aus dem Kraut kann eine Salbe hergestellt werden. Bis zu vierzig Samen werden geräuchert. Auskauen der frischen Wurzel, Aufguss oder alkoholischer Auszug aus Blättern bzw. Blüten.

Wirkung
Die Wirkungen auf Körper und Geist sind gekennzeichnet durch die typischen Symptome einer Nachtschatten- bzw. Tropan-Intoxikation und ähneln denen, die durch Tollkirsche (Atropa spp.; siehe Teil 2 dieser Serie), Engelstrompete (Brugmansia spp.), Bilsenkraut (Hyoscyamus spp.) und Alraune (Mandragora spp.) induziert werden. Je nach Dosis können Ataxie, Atembeschleunigung, Aggression, Bewegungs- und Koordinationsstörungen, Erregung (auch sexuelle), Euphorie (z. B. Lach-Flashs), Halluzinationen, Haut- und Gesichtsrötung, Mundtrockenheit, Mydriasis (Pupillenerweiterung), Raserei, Rededrang, Tachykardie (erhöhte Pulsfrequenz), Verwirrung, Wut, und im schlimmsten Fall, sogar der Tod durch Atemlähmung die Folge eines Konsums sein. Schultes et Hofmann beschreiben die Wirkungen eines Datura-Konsums folgendermaßen: „Die physiologische Aktivität äußert sich zuerst in einem Gefühl der Ermattung, das in eine halluzinatorische Phase übergeht und schließlich mit tiefem Schlaf und Bewußtlosigkeit endet. Überdosen können zu dauernder Geistesgestörtheit oder zum Tode führen.“iv Und weiter: „Die psychoaktive Wirkung ist bei allen Datura-Arten so stark, daß man sich nicht zu fragen braucht, weshalb sie auf der ganzen Welt von Naturvölkern als Pflanzen der Götter betrachtet worden sind.“v
Das entheogen hauptwirksame Alkaloid Scopolamin wirkt in großzügiger Konzentration gleichzeitig stark halluzinogen, bewußtseinstrübend und narkotisierend. Der Konsument verfällt unter Umständen in einen Trance-ähnlichen, von Visionen geprägten Schlaf.

Gefahren & Nebenwirkungen
Neben den oben beschriebenen Nebenwirkungen und wegen der schwankenden Wirkstoffvorkommen in einzelnen Pflanzen kann ein Datura-Konsum schnell zu einer Überdosierung werden. Hat ein User sich eine Tropanalkaloid-Vergiftung zugezogen, kann laienhafte medikamentöse Hilfe ausschließlich per medizinischer Aktivkohle eingeleitet werden. Des weiteren ist sofort ein Notarzt zu rufen, und zwar vorzugsweise der des Rettungsdienstes, nicht der notdienstliche Hausarzt. Der Rettungsdienst ist im Notfall innerhalb von zehn Minuten vor Ort, der diensthabende niedergelassene Mediziner könnte durch andere zu behandelnde Patienten aufgehalten werden.
Der Datura-Intoxikierte ist dringend zu beruhigen („Talk-Down“), und sollte, wenn möglich, Wasser oder Saft zu trinken bekommen. Hat der Konsument sich nur leicht vergiftet, kann es sein, dass die körperlichen Beschwerden nachlassen, sich vielleicht sogar (nach ein bis drei Stunden) einstellen. Ist die Vergiftung hingegen schwerwiegend, muss schlimmstenfalls mit dem Äußersten gerechnet werden.
Die Internetpräsenz der Universität Erlangen/Fachbereich Pharmazeutische Biologie, bietet ein übersichtliches und informatives Kompendium zum Thema Giftpflanzen und Intoxikationen mit solchen. Auch zur Datura-stramonium-Vergiftung findet sich ein kurzes, aus der Realität gegriffenes Fall-Beispiel. Interessanterweise war der zu behandelnde Patient ein Kleinstkind: „Beratungsstelle für Vergiftungserscheinungen, Berlin: 9 Monate altes Kind biss in ein Blatt, nach 1 1/2 Std. Temperaturanstieg auf 38,6° C, trockene Zunge, Mydriasis, euphorisch, nach 4 Std. klangen die Symptome ab, Kind war unauffällig.“vi
Mexikanische Indianerstämme setzen den Peyote-Kaktus (Lophophora williamsii) bei Toloache-, also Datura-innoxia-Vergiftung ein. Aus welchem Grund bzw. wegen welchen Inhaltsstoffes Lophophora spp. ein wirksames Antidot bei Tropanalkaloidintoxikation ist, konnte ich bis heute nicht aufdecken. Falls allerdings hierzulande jemand unter einer akuten Nachtschattenpflanzen-Vergiftung leidet, so darf dieser Person unter keinen Umständen eventuell verfügbarer Peyote verabreicht werden.

Rechtslage:
Die Pflanzen, Pflanzenteile und Inhaltsstoffe aller Datura-Arten unterliegen nicht dem Betäubungsmittelgesetz und sind frei verfügbar. Für wild wachsende Pflanzen gelten (bisher) keine Ernteauflagen oder -verbote. Synthetische und/oder isolierte Tropanalkaloide unterliegen dem Arzneimittelrecht, nicht aber der Betäubungsmittelverordnung. Datura stramonium ist seit dem 19. Juni 1985 (Anlage 1: 301) laut der sog. ‚Kosmetikverordnung’ als kosmetischer Stoff verboten.

Literatur (Auswahl):
Berger, Markus (2003), Stechapfel und Engelstrompete. Ein halluzinogenes Schwesternpaar, Solothurn: Nachtschatten Verlag
Berger, Markus (2004), Handbuch für den Drogennotfall, Solothurn: Nachtschatten Verlag
Berger, Markus und Hotz, Oliver (2008), Die Tollkirsche – Königin der dunklen Wälder, Solothurn: Nachtschatten Verlag
Frohne, Dietrich; Pfänder, Hans Jürgen (1987), Giftpflanzen, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Küttner, Michael (1998), Der Geist aus der Flasche – Psychedelische Handlungselemente in den Märchen der Gebrüder Grimm, The Grüne Kraft Löhrbach
Rätsch, Christian (1998), Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen, Aarau: AT Verlag
Rätsch, Christian; Müller-Ebeling, Claudia (2003), Lexikon der Liebesmittel, Aarau: AT Verlag
Roth, Lutz; Daunderer, Max; Kormann, Kurt (1994), Giftpflanzen – Pflanzengifte, Hamburg: Nikol

Fußnoten:
I Marzell 1922: 173 f.; zitiert in Rätsch 1998: 211:
II Vannini et Venturini 1999: 37
III Johnston 1854: 135
IV Schultes et Hofmann 1998: 111
V Schultes et Hofmann 1998: 111
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