Montag, 5. Juli 2010

Das Endocannabinoid-System ist bei der Reisekrankheit gestört

Franjo Grotenhermen ist Vorstand und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin

Etwa 7 bis 28 Prozent aller Menschen berichten von Symptomen akuter Übelkeit während Reisen mit dem Auto, dem Flugzeug oder dem Schiff. Am bekanntesten ist sie als Seekrankheit. Die Ursache für diese häufig sehr unangenehme Begleiterscheinung von Reisen ist nicht vollständig geklärt. Allgemein wird angenommen, dass die Symptome durch einen Konflikt zwischen den tatsächlichen und den erwarteten Sinnesreizen von Organen, die der räumlichen Orientierung dienen, zu Stande kommen. Diese Theorie erklärt allerdings nicht, warum verschiedene Personen unterschiedlich sensibel für diese Form der Übelkeit sind, und sie erlaubt auch keine Abschätzung des individuellen Risikos. Es scheint eine genetische Veranlagung für die Reisekrankheit zu geben. Zudem ist die Reisekrankheit mit einer starken Stressreaktion, die sich an Veränderungen der Konzentration der Stresshormone Kortisol und Adrenalin erkennen lässt, begleitet.
Wissenschaftler der Ludwig-Maximilian-Universität in München führten mit 21 gesunden, männlichen Personen parabolische Flüge in einem Airbus A300 durch. Während eines parabolischen Flug-Manövers wurde für einen Zeitraum von etwa 22 Sekunden Schwerelosigkeit erzeugt. Insgesamt wurden 30 solcher Flug-Manöver durchgeführt, mit jeweils acht Minuten Pause nach dem zehnten und nach dem zwanzigsten Manöver. Vor den parabolischen Flug-Manövern, nach dem 10., dem 20. und dem 30. Manöver sowie 24 Stunden später wurde den Teilnehmern Blut entnommen, was auf die Konzentrationen der Endocannabinoide Anandamid und 2-AG (2-Arachidonylglycerol) untersucht wurde. Endocannabinoide sind Substanzen, die der Körper selbst produziert und so wie THC an Cannabinoidrezeptoren binden. Zudem wurde den Probanden Speichel entnommen, um die Kortisol-Konzentrationen im Verlaufe der Versuche zu messen.
Die parabolischen Flüge verursachen bei einem Drittel (sieben Personen) der Teilnehmer eine akute Stressreaktion und Übelkeit. Diese Personen zeigten nach den ersten zehn Flug-Manövern bis zum vollständigen Ende der 30 Flug-Manöver Stresssymptome. Die Übelkeit begann später einzusetzen als der Stress. Die sieben Teilnehmer, die mit akuter Übelkeit reagierten, zeigten während der Flug-Manöver eine signifikant erniedrigte Konzentration der Endocannabinoide. Nach zehn parabolischen Flügen nahm die Anandamid-Konzentration im Blut von den Teilnehmern mit Übelkeit ab, während sie bei den anderen 14 Probanden anstieg. Nach Beendigung der Versuche kehrten die Anandamid-Konzentrationen auf den Ausgangswert zurück. Niedrige Konzentrationen von Endocannabinoiden im Blut waren mit hohen Kortisol-Werten im Speichel assoziiert. Bei den 14 Teilnehmern ohne Übelkeit blieben die Kortisol-Konzentrationen im Speichel während des Flugs dagegen nahezu unverändert.
Diese Ergebnisse zeigen, dass das körpereigene Endocannabinoidsystem an den Mechanismen, die zur Reisekrankheit führen, beteiligt ist. Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass das Endocannabinoidsystem eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Übelkeit und Erbrechen durch bestimmte Erkrankungen, wie beispielsweise Migräne, und durch Medikamente, wie vor allem Krebsmittel, spielt. Cannabis und THC helfen bei unterschiedlichen Ursachen von Übelkeit. Die neue Studie legt nahe, dass dies auch für die Reisekrankheit gilt.
Die aktuelle Studie legt nahe, dass es bei verschiedenen Personen eine unterschiedliche Empfindlichkeit für die Entwicklung von Übelkeit gibt, und dass diese unterschiedliche Empfindlichkeit auf einer unterschiedlichen Reaktionsweise des Endocannabinoidsystems basiert. Wer bei Situationen, die bei einigen Menschen Übelkeit verursacht, mit einer Steigerung der Endocannabinoidspiegel reagiert, hat Glück gehabt und ist weniger empfindlich. Wer in diesen Fällen jedoch mit einem Abfall der Endocannabinoidkonzentrationen reagiert, erleidet schneller Übelkeit und Erbrechen.
Teilnehmer, die während der Flugmanöver mit Übelkeit zu kämpfen hatten, wiesen nicht nur geringere Spiegel von Endocannabinoiden auf, sondern zeigten auch Stressreaktionen. Die Erhöhung der Kortisol-Konzentration im Speichel könnte auf einer unspezifischen Stressreaktion durch die Übelkeit beruhen.
Andererseits gibt es Hinweise, dass Endocannabinoide Stressreaktionen abschwächen können, genauso wie Cannabis Stress reduzieren kann. So wurde festgestellt, dass das Endocannabinoid 2-AG im Hypothalamus, eine bestimmte Hirnregion, die Kortisol-Reaktion auf Stress abdämpft, während anders herum Stress den Spiegel von 2-AG reduziert. Die Autoren folgern aus ihren Beobachtungen, dass die „pharmakologische Verstärkung der Endocannabinoid-Signalgebung eine alternative prophylaktische oder therapeutische Herangehensweise für Reisekrankheit darstellt, die nicht auf gegenwärtig verfügbare Behandlungen ansprechen“. Oder anders ausgedrückt: Cannabis hilft vermutlich auch bei Reisekrankheit.

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