Dr. med. Franjo Grotenhermen
Mitarbeiter des nova Institutes in Hürth bei Köln und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM).
In einem Leserbrief an eine Zeitschrift für Psychiatrie berichteten zwei Ärzte aus einem Krankenhaus in Izmir (Türkei) über einen ihrer Patienten mit paranoider Schizophrenie, der als Nebenwirkung auf seine Medikamente eine so genannte tardive Dyskinesie (Dyskinesie bedeutet wörtlich übersetzt: „Fehlbewegung“) und eine tardive Dystonie (wörtlich übersetzt: „Fehlspannung“) entwickelt hatte. Bei der tardiven Dyskinesie handelt es sich um Bewegungsstörungen im Gesichtsbereich (Zuckungen, Kaubewegungen) oder unwillkürliche Bewegungen der Gliedmaßen. Diese Bewegungsstörungen sind nach Behandlungen mit Neuroleptika und anderen Psychopharmaka oft irreversibel, bleiben also auch nach Absetzen der Medikamente bestehen, und sind häufig kaum zu behandeln. In zwei großen internationalen Studien mit schizophrenen Patienten wurde bei 16 bzw. 12 Prozent der Teilnehmer eine tardive Dyskinesie festgestellt. Bei den Betroffenen wurde ein hohes Selbstmordrisiko beobachtet.
In dem konkreten Fall aus der Türkei handelte es sich um einen 48 Jahre alten Mann, der seit zwanzig Jahren unter einer Schizophrenie litt. Etwa zwei Jahre nach Einsetzen der Symptome wurde die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie gestellt. Er hörte Stimmen, hatte visuelle Halluzinationen, berichtete von seiner Fähigkeit der Gedankenübertragung und anderer übermenschlicher Fähigkeiten und litt unter Wahnvorstellungen. Etwa acht Monate nach Beginn einer anti-psychotischen Therapie mit drei Medikamenten entwickelte er unwillkürliche Bewegungen im Bereich des Gesichts und des Mundes mit Problemen, Nahrung zu kauen und herunter zu schlucken (tardive Dyskinesie). Zur gleichen Zeit traten unwillkürliche anhaltende Anspannungen der Nackenmuskulatur auf (tardive Dystonie). Diese unwillkürlichen Bewegungen nahmen in den nächsten Monaten zu, bis seine Sprache kaum noch zu verstehen und sein Nacken stark beeinträchtigt war. Dann begann er, Cannabis zu verwenden, und stellte fest, dass die unwillkürlichen Bewegungen signifikant abnahmen. Er rauchte daher zwei Jahre lang drei bis viermal wöchentlich Cannabis, um sich selbst zu behandeln, bis er wegen Drogenschmuggels verhaftet wurde. Während einer siebenmonatigen Haftzeit traten die Symptome mit der ursprünglichen Stärke wieder auf.
Als er sich mit 48 Jahren in dem Krankenhaus vorstellte, deren Ärzte den Bericht über seinen Fall an die Zeitschrift schickten, versuchten sie die Nebenwirkungen der antipsychotischen Therapie durch einen Wechsel der Medikamente zu reduzieren. Tatsächlich begannen die unwillkürlichen Bewegungen im Bereich von Mund und Gesicht vier Wochen nach einem Wechsel auf ein atypisches Antipsychotikum abzunehmen. Die Symptome in seinem Nacken blieben jedoch unverändert bestehen. Die Autoren versuchten nacheinander verschiedene Medikamente (Diazepam, Baclofen, Injektionen mit Botulinus-Toxin in die Muskulatur, Sormodren, Gabapentin), die jeweils ein bis zwei Monate lang ausprobiert wurden, es gelang jedoch mit keinem Medikament, die tardive Dystonie, d. h. die Muskelanspannungen im Nacken zu beeinflussen.
Der Mechanismus der Entstehung von tardiven Dyskinesien und Dystonien ist bisher nicht gut verstanden, und es gibt verschiedene Theorien, darunter Störungen im Bereich von Neurotransmittern (Botenstoffen im Nervensystem) in Hirnregionen, die für Bewegungen zuständig sind. Das körpereigene Endocannabinoidsystem spielt eine Rolle bei der Kontrolle von Bewegungen. Cannabinoidrezeptoren finden sich in Hirnregionen, die für diese Kontrolle wichtig sind, und viele Studien mit Tieren, aber auch beim Menschen haben gezeigt, dass von außen zugeführte Cannabinoide überwiegend hemmende Wirkungen auf die Bewegungsaktivität haben. Dies wurde beispielsweise bei der Spastik von Multiple-Sklerose-Kranken und beim Tourette-Syndrom nachgewiesen.
Es gibt bisher allerdings wenig Erfahrung mit der Verwendung von Cannabinoiden bei tardiven Dystonien und tardiven Dyskinesien, also Bewegungsstörungen als Nebenwirkungen von Medikamenten gegen schizophrene Störungen. Die Autoren des Falles aus der Türkei schreiben, dass sie keine Möglichkeit gehabt haben, dem Patienten Cannabinoide zu verabreichen und die Wirkungen zu beobachten, weil es in der Türkei keine legalen Möglichkeiten für solch eine Therapie gibt. Sie weisen jedoch darauf hin, dass „wir denken, dass Cannabinoidagonisten eine angemessene Wahl bei der Behandlung nicht behandelbarer tardiver Dystonien darstellen könnten“. Damit drücken die Ärzte in einer zurückhaltenden akademischen Sprache aus, dass sie unglücklich darüber sind, dem Patienten diese Behandlung nicht ermöglichen zu können.
Der Bericht beschreibt zum einen die medizinischen Möglichkeiten von Cannabis bei dieser schweren Erkrankung und demonstriert zugleich die ganze Tragik und Brutalität, die mit dem Verbot der medizinischen Verwendung in den meisten Ländern der Erde verbunden ist.
Franjo Grotenhermen ist Vorstand und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin