Montag, 5. Oktober 2009

Kambodscha

Von den Killing Fields zur größten Tempelanlage der Welt

Die 40stündige Busfahrt von Hanoi in Nordvietnam nach Saigon in den Süden gestaltete ich mir erträglicher, indem ich mehrere Zwischenstopps auf der Strecke einlegte, um mehr Einblicke ins ländliche Vietnam zu gewinnen. Diese Route der Reise verlief jedoch nicht weniger strapaziös als andere, und nach einer nächtlichen Buspanne, einer bei Mitreisenden erlebten Schlägerei und dem mißglückten Versuch bestohlen zu werden, war ich bereit für Kambodscha.
Dachte ich. Aufgrund eines Feiertages waren die Busse von Saigon in die Hauptstadt Kambodschas, Phnom Penh, für die nächsten Tage ausgebucht. Also beschloss ich, ein Flugticket nach Phnom Penh zu kaufen und irgendwo in diesem fünftärmsten Land der Welt Freunde, die mich schon zuvor auf meiner Reise begleiteten, wiederzutreffen.
Am Flughafen in der Hauptstadt Kambodschas angekommen freute ich mich auf einen bequemen Sitzplatz in einem Bus oder vielleicht sogar luxuriöserweise in einem Taxi. Nach längerem Erkunden nach dem besten Deal für eine Fahrt vom Flughafen in die Stadt entschloss ich mich schließlich für die ökonomischste Alternative. So fuhr ich mit einem rüstigen und freundlichen Mopedfahrer mitsamt Gepäck an Bord über die, nennen wir es ruhig mal Anfangsstadium einer Autobahn, in rasanter Khmer-Mentalität Richtung City. Autos gibt es auch hier, wie in einigen Nachbarländern, nur wenige. Die Unterkunftsmöglichkeiten in der mit Abstand größten Stadt des Landes waren durchaus gut. Wirklich schicke Hotels, mit erstaunenlicherweise europäisch angehauchter Architektur, boten Unterkunft im Preisrahmen um die US$10-15 und einfache, aus Brettern bestehende Hütten auf Holzstegen an einem See erfüllten den Übernächtigungszweck für schlappe ein bis drei US Dollars die Nacht.
Drei meiner früheren ‚fellow travellers‘ traf ich ein paar Tage in der Stadt wieder und wir entschlossen uns, alle gemeinsam in das Backpackerdomizil Nr. 1 der Stadt an den See für die nächsten Tage zu ziehen. Wunderbarer Blick auf den Sonnenuntergang vom hauseigenen Steg aus und Kackerlaken im Hostel über dem Wasser inklusive. Der freundlicherweise zur Verfügung gestellte Standventilator blies die lästigen Moskitos in der Nacht weg und somit war es eigentlich ja auch schon wieder ganz kuschelig. Nach einigen Tempelbesuchen tagsüber genoss man leckeres, kambodschanisches Gras, das man von Guesthouseangestellten oder Motorradfahrern mindestens so leicht wie Bier bekam. Es war nicht das am besten getrocknete und von Blättern und Samen befreite Ganja, aber trotz allem voll genussvollem Aroma und den bekannt angenehmen Sativaeigenschaften, die man von in den Tropen gewachsenem Outdoorweed erwarten kann.

So vergingen die ersten Tage in Kambodscha recht entspannt und chillig, was aber auch ganz bewusst eine mentale Chillphase für alle Beteiligten war, bevor wir die wahrhaft bewegenden Orte des Landes kennenlernen sollten. Wir waren auf den Besuch von S21 Tuol Sleng wenig vorbereitet, doch sollte sich dies beim Betreten der Mauern schnell ändern. S21 trägt heute den Untertitel „Museum des Völkermords“ – eine ehemalige Schule, die zum Gefangenen- und Folterlager während der Herrschaft der Roten Khmer von 1975 – 1979 umfunktioniert wurde. Manche sprechen von 14.000, andere Quellen von über 60.000 Menschen, auch Kinder und Greise, die dort inhaftiert waren, gefoltert wurden und schließlich kaltblütig von den Roten Khmer ermordet wurden. Aus dieser gesamten Epoche waren es lediglich sieben Menschen, die S21 überlebten. Beim Umherlaufen in den ehemaligen Klassenzimmern des Gymnasiums, deren Funktionalität heute die der Folterkammern dieser dunklen Zeit widerspiegelt, lief uns allen immer wieder ein Schauer über den Rücken. Neben Folterinstrumenten und minimalst kleinen Schlafkammern wurden viele Informationen auf Tafeln und Bildern veranschaulicht. Viele der Fotos, die von den meisten Gefangenen bei der Einlieferung nach S21 gemacht wurden, hängen heute dort aus, als letzten Respekt und Erinnerung an die Opfer. Während der selbstgenannten Revolution der Roten Khmer in den Siebziger Jahren wurden etwa zwei Millionen Menschen, also ein Drittel der Gesamtbevölkerung Kambodschas zu dem Zeitpunkt, von den Machthabern getötet. Vor allem frühere Beamte, Intellektuelle, buddhistische Mönche und, man glaubt es kaum, Brillenträger, wurden innerhalb von nur vier Jahren ermordet. In diesem Land, reich an Kulturerben und schöner Natur, fand eine Volksausrottung statt. Heute beträgt der Altersdurchschnitt in Kambodscha 21 Jahre. Mit einer Lebenserwartung von mittlerweile 59 Jahren werden schnell die wahren Verhältnisse in diesem Land auch heutzutage deutlich. Der Rundgang durch den Gebäudekomplex von S21 endete für uns mit einer Filmvorstellung in einer dieser besagten ehemaligen Folterkammern. Mit düsteren Archivaufnahmen des Gefangenenlagers von damals in den Köpfen verließen wir Tuol Sleng. Wir mussten uns nun auf die nächsten eventuell tiefgreifenden Eindrücke am nächsten Tag einstellen.
Ein paar Kilometer vor den Toren Phnom Penhs fuhren wir mit einem Tuktukfahrer und vollbeladen mit unserem Gepäck zu einem weiteren wichtigen Ort in der Geschichte Kambodschas. Wir waren auf der Fahrt zu den sogenannten ‚Killing Fields‘. Diese Felder sind einer der Orte, an dem politisch geplante Massenmorde über Jahre hinweg stattfanden. Schätzungsweise 200.000 Menschen wurden hier ermordet. Kinder, Frauen, Männer. Da die Roten Khmer zu wenig Munition für diese Massaker hatten, wurden die Todgeweihten selten erschossen, sondern mit einem harten Gegenstand erschlagen und schließlich in Massengräbern verschachert. Gänsehaut erfasst den ganzen Körper, sobald man mit seinen Füßen über genau diesen Boden an diesem Ort läuft. Es ist schon ein etwas merkwürdiges Gefühl, wenn man trotz dieser Geschehnisse vor 30 Jahren an diesem gleichen Ort scharenweise kleiner Khmerkinder neben all den alten Massengräbern spielen sieht. Die Welt dreht sich nun einmal immer weiter.
Als Gedenken dieser vielen Opfer dieser Greueltaten wurden die aus dem Sand ausgegrabenen Überreste der Ermordeten teilweise konserviert für die Öffentlichkeit und die Nachwelt ausgestellt. Neben den getragenen Kleidungsstücken der Opfer werden tausende ihrer Schädel in einer Art pyramidenförmigem, verglasten Gebäude aufbewahrt. Ein Anblick, den man nicht mehr so schnell vergisst.

Diesen Tag ließen wir am Abend betäubend bei einigen Cocktails ausklingen, denn die Eindrücke saßen bei allen einfach zu tief. Ein spontanes Treffen mit einem Südafrikaner, den ich in einem Internetcafe in Phnom Penh einige Tage zuvor kennenlernte, stellte sich als interessant, aber mehr als riskant heraus. Er bot mir eine Mitbeteiligung an einem der Hostels an dem besagten See in Phnom Penh an, für sage und schreibe mickrige US$ 1000. Verschiedene Faktoren deuteten jedoch zu sehr auf einen Betrugsversuch hin und ich lehnte das Geschäft freundlich ab. Gedanklich befand ich mich auch noch bei den tausenden Toten und deren aufgebahrte Schädel. Mir war nicht danach, mich auf ein riskantes Unterfangen einzulassen. Am Tag danach war es mal wieder soweit aus unserer Unterkunft auszuchecken und mit dem Bus ein paar hundert Kilometer Richtung Norden, nach Siem Reap, zu fahren. Wir konnten es kaum erwarten die sagenumwobenen Tempelanlagen von Angkor kennenzulernen.
Da ein Großteil der Straße von Phnom Penh nach Siem Reap nicht asphaltiert ist, ist eine Überlandverbindung nur in der Trockenzeit möglich, in der Regenzeit lediglich per Boot. Wir hatten Glück und konnten auf die schnellere Alternative auf Rädern ausweichen und waren nach mehreren Stunden auf staubigen Pisten an unserem Zielort der nächsten Tage angelangt. Ein wunderschönes, kleines Guesthouse mit Innenhof und kleinem Garten sollte unser neues Domizil für einige wenige Dollar im Nordwesten Kambodschas sein. Bei leckerer selbstgemachter Khmer-Küche in unserem guesthouseeigenen Outdoorrestaurant ließen wir es uns kulinarisch so richtig gutgehen und natürlich blieb auch hier der obligatorische Gang zum Taximopedfahrer um die Ecke nicht aus, um hier und da das örtliche Gras zu verköstigen.

Andere Reisende hatten uns bereits empfohlen, mindestens einen Drei-Tage-Paß für die Angkor Wat Tempelanlagen zu kaufen, es lohne sich und man benötige die Zeit. Das klingt ja fast wie in Disney World, dachte ich mir. Wie recht sie doch hatten, und wie glücklich wir waren, uns mit unseren personifizierten Drei-Tage-Pässen und unserem für diese Zeit gemieteten Tuktukfahrer durch diese imposanten und absolut beeindruckenden Tempelanlagen bewegen zu können. Die ältesten der teilweise gut erhaltenen, teilweise einsturzgefährdeten Ruinen stammen aus dem 10. Jahrhundert und wurden über mehrere Jahrhunderte danach mit vielen weiteren Tempeln auf einer riesigen Fläche errichtet. Einer schien schöner als der andere. Die Angkor Wat Tempelanlagen sind nicht nur die größten der Welt, sondern man kann (fast) ungehindert alles ohne Einschränkung erkunden und auf die Gebäude der (nicht nur) pyramidenförmigen Tempelanlagen klettern. Und was für Ausblicke man von diesen Gebäuden und Türmen umgeben von Dschungel genießen kann, ist unglaublich. Dieser Ort ist solch ein Juwel der Natur auf diesem Planten, dass wir uns den Sonnenaufgang am zweiten Tag um kurz vor sechs Uhr morgens einfach nicht entgehen lassen konnten und sich uns als herrliches Naturschaupiel in prächtigen Farben präsentierte.
In der Mittagshitze zeigte sich Angkor in der Trockenzeit von seiner erbarmungslosesten Seite, wir ertranken fast in unserem eigenen Schweiß, so heiß war es, und umso größer die Tempel, desto näher krackselten wir der sengenden Hitze der Sonne entgegen. Wir hatten uns auf einen Rhythmus geeinigt, nach jeder einzelnen Tempelanlage eine Pause mit Flüssigkeitszufuhr einzulegen. Die Gefahr innerhalb nur kurzer Zeit zu dehydrieren war groß. Die Kulissen waren so beeindruckend und man fühlte sich wie in Tomb Raider, dessen Szenen hier an den Originalschauplätzen gedreht wurden, worauf wir von Einheimischen immer wieder gerne hingewiesen wurden. Nicht zuletzt hat sich die, wenn auch noch sehr kleine, Tourismusindustrie und Gaststättenbranche voll und ganz darauf eingestellt und einer der angesagtesten Cocktails im Nachtleben von Siem Reap ist, wie kann es anders sein, ein Angelina Jolie Cocktail. Nach dem Schrecken vor 30 Jahren haben die heutigen Khmer ja auch ein Recht auf ein besseres Leben und Frieden, und da gehört so etwas anscheinend dazu.
Am dritten Tag in den Tempelanlagen taten unsere Füße schon merklich weh und unsere Körper teilten ihre Überanstrengungen der letzten Tage mit. Trotz allem ein gutes Gefühl, es hatte sich gelohnt, ganze drei Tage an diesem Ort zu verbringen und viele kleine Winkel zu erkunden. Die Präsenz von in orangenen Roben gekleideten buddhistischen Mönchen verlieh ein weiteres Gefühl der Ruhe und Besinnlichkeit an diesem magischen Ort. Bei einem kühlen Drink, einem dicken kambodschanischen Tütchen und der Kulisse von Angkors Tempeln und als Transportmittel dienenden Elefanten, die langsam traben, kommt man dem Frieden und Glückseligkeit vielleicht selten so nah im Leben. Solange einem kein Elefant seinen Darm auf den Kopf entleert beim Chillen… Unschön sind die Gedanken, die mit diesem ehemaligen Ort der Macht Kriege verbinden und dass die Bauten und deren ursprüngliche Schätze nach und nach von Invasoren geplündert wurden. Die Angkor Wat Tempelanlagen gehören heute deshalb dem UNSECO Weltkulturerbe an und werden mittlerweile nach und nach restauriert.
Am darauffolgenden Tag trennten sich unsere Wege wieder. Vier Weggefährten aus drei Ländern sind am Ende ihrer gemeinsamen Reise zusammengekommen, zusammen gereist und trennten sich wieder, ohne sich danach je wieder gesehen zu haben, alle mit ihren eigenen Eindrücken, Erfahrungen und Erinnerungen, die jeder für sich für ein Leben lang mitnimmt. Ich beschloss am gleichen Tag, mein Flugticket nach Bangkok zu kaufen. Mit meinem Ticket und nur noch etwa US$ 50 Reisekasse in der Hand gönnte ich mir etwas zu Essen an einem Stand am Straßenrand und hatte nach einer langen Reise ein nettes Gespräch mit einem Mann, der sich zu mir setzte. Es sollte die letzte ausführliche Konversation dieser gesamten Reise sein. Er entpuppte sich als Klavierspieler aus Malaysia, der jeden Abend den Touristen und Neureichen des Landes in einem Luxushotel Musik vorspielt, während seine Frau, Familie und Freunde in Malaysia lebten. Wir unterhielten uns noch lange auf dieser Bank, philosophierten über das Leben und das Reisen, über Glück und Unglück. Auch wir haben uns nach diesem Ereignis nie wieder gesehen, doch manchmal im Leben genügt eine einzige Konversation oder ein einizger Mensch, an einem ungewöhnlichen Ort und unter ungewöhnlichen Umständen, um sich neuen Dingen zu öffnen und seinen eigenen Weg zu finden. Meist führt nur nicht der kürzeste Weg an das Ziel. Und außerdem – man sieht sich immer zweimal im Leben, bin mal gespannt wo …

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