Donnerstag, 15. Juni 2006

Jeff Mills: Blue Potential (tresor)

>> Techno / Classic

Über Jeff Mills etwas zu erzählen, ist wie Eulen nach Detroit zu tragen, aber vorher geht’s erstmal nach Südfrankreich. Im Juli 2005 wurden am illuminierten Pont du Gard – der größten erhaltenen Aquäduktbrücke der Antike – von Jeff Mills ursprünglich für Maxi-Singles und CDs produzierte, elektronische Titel in klassischen Versionen uraufgeführt. Die Deutschland-Premiere der DVD “Blue Potential” (auch als CD erhältlich) ereignete sich am 17. Mai 2006 in Anwesenheit von Jeff Mills und Thomas Roussel im Berliner Babylon – und dieses Erlebnis ist für meine Begriffe nur mit “85-minütiger Ganzkörper-Gänsehaut” zu beschreiben. Da ich mich dank einer musikalischen Familie sehr früh mit klassischer Musik auseinandergesetzt, selbst Jahre lang Schlagzeug und Trompete gespielt habe und in meiner Jugend auch durch den ganzen Detroit Techno von Juan Atkins, Derrick May, Kevin Saunderson und eben Jeff Mills beeinflusst wurde, schloss sich für mich ein Kreis. Und wie damals die legendären “Ringe des Saturn” (Underground Resistance) ist auch dieses überwältigende Werk einfach Musik mit Substanz! Der französische Komponist Thomas Roussel hatte die 15 Tracks für ein Orchester in Noten transkribiert und Jeff Mills unterstützte das 80köpfige Nationalorchester Montpellier (Dirigent: Alain Altinoglu) auf der Bühne mit Drum Machine und Percussion. Elektronische Musik hat sich ja mal am Anfang in einer sehr komplexen Art und Weise entwickelt und sich im Laufe der Zeit vereinfacht – weil es gar nicht nötig war, kompliziert zu sein. In der nun vorliegenden Aufführung, seinem ersten Live-Auftritt seit 1991, hat Jeff Mills sichergestellt, dass es Phasen gibt, in denen das Orchester so spielt wie eine programmierte Maschine: Immer wieder repetitive Muster, also Loops. Das Publikum spürt, dass da Elektronik und Orchester ein gleiches Ziel haben, durch die rhythmische Individualität der einzelnen Musikergruppen klingt alles sehr organisch. Während der Aufführung gab es eine abstrahierte Strömung des Sounds, bei der sich die Musiker durch Intuition, Interpretation, Berührung und Erinnerungsvermögen verbunden fühlten, im Gegensatz zu elektronischen Geräten, die sich durch elektrische Ladung miteinander synchronisieren. Melodisch-dynamische Werke wie “Imagine”, “Time Machine” und “Gamma Player”, ergreifende wie “The March”, “Eclipse” und “Daylight”, avantgardistische wie “4 Art” und “Medium C”, Auszüge aus seiner elektronischen Filmkomposition zum Fritz Lang Film “Metropolis” und vor allem das grandiose “The Bells”, die Regenwald-Hymne “Amazon” und das finale “Sonic Destroyer” überzeugen ohne jeden Zweifel. Und “Bedeutung” und “Substanz” sind die einzigen Faktoren, die das Überleben von Elektronischer/Techno Musik über Jahrhunderte garantieren können. Im Dokumentarteil der DVD spricht Jeff Mills über den starken Wind über der Open Air Bühne, der sich zum Beginn der Vorstellung wieder legte. Ein Glück!

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