Montag, 18. Oktober 2004

Die Maulhelden

Maulhalde Nr. 29

Ein Jahr
ist im Grunde so wie ein Stück von Shakespeare: Es beginnt mit
leisen Hoffnungen und aufknospenden Erwartungen, dann folgt der große
Freudentaumel im wonnigen Lichte, anschließend hält die
Kälte Einzug und am Ende ist alles tot. Will sagen: Verdammter
Dreck, der Sommer ist vorbei! „Langsam verabschieden sich die hohen
Temperaturen wieder von uns und der Herbst beginnt dieses Jahr schon
etwas früher“, säuselt die blonde Wetterfrau im Fernsehen
und ich finde, man sollte sich im Anschluss an diesen Satz selbst
umbringen dürfen und trotzdem in den Himmel kommen. „Der
Herbst ist doch auch ganz schön!“ sagen dann viele. Ist
jemandem etwas aufgefallen? Niemand sagt: „Der Herbst ist schön“,
sondern „Auch ganz schön“. So wie in: „Urlaub in Hessen
ist doch auch ganz cool!“ oder „Nicht den letzten Platz belegt zu
haben, ist doch auch ganz gut!“. Was ist denn bitte am Herbst auch
ganz schön? Nun ja, man kann gemütlich bei Kerzenschein
ein Buch lesen. Was bleibt einem denn auch anderes übrig,
wenn die Blutsauger von den Energiewerken den Strompreis so erhöhen,
dass mich schon Toasten mein halbes Monatsgehalt kostet? Aber man
kann so schön unter feucht dampfenden Kastanien flanieren und
hinterher einen herrlich heißen Kakao trinken. Heißt
im Klartext: Man latscht mit so ’ner Fresse unter tropfenden Bäumen
herum, bis auch noch der Schlüpfer nass ist und muss sich eine
klägliche Portion Serotonin aus dem Kakao ziehen, weil die Sonne
uns das nicht mehr liefern kann. Mann, Sommer, das ist Wasserrutschen
am Nordseestrand, Autofahrten mit offenen Fenstern und der Wind ist
wie Musik, man kann abgefahrene Dinger drehen, in lauen Nächten
schön Eis schmatzen. Herbst ist Ausrutschen am Nordsee-Stand,
Autofahrten mit beschlagenen Fenstern und die Lüftung ist lauter
als die Musik, man kann abgefrorene Finger sehen, in lausigen Nächten
schon Eis kratzen. Wenn ich ein Vampir wäre, dann würde ich
mich wie ein kleiner Dackel auf den Herbst freuen. Dunkelheit, Nebel
und die Leute stinken nicht mehr nach Knoblauch vom Italienurlaub.
Aber bin ich ein Vampir? Abgesehen von der Blässe und dem
muffigen Geruch jedenfalls nicht. Jetzt schlurft man im Dunkeln zur
Arbeit und kommt auch im Dunkeln wieder nach Haus. Wenn man eine
Arbeit hat, versteht sich. Wenn nicht, muss man jetzt wieder von den
schönen Arztsocken in Sandaletten Abschied nehmen und sich die
graue Jogginghose bis zum Bauchnabel ziehen, wenn man beim
Getränkeladen gegenüber sein Kasten Bier holt. Wird das
mies! Ich frage mich, wo ist die Erderwärmung, wenn man sie mal
braucht? Aber was bringt schon das jammern? Fakt ist, Herbst ist wie
der Hartz IV-Blödsinn: Man kann protestieren wie man will,
kommen wird er eh und dann wird’s kalt in Deutschland.

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