Donnerstag, 30. August 2012

Rolys Silberscheiben des Monats September 2012

Max Herre: Hallo Welt
nesola

So wie Freundeskreis mit ihrem 1999er Meilenstein „Esperanto“ Rap als Weltsprache und universelle Kunstform definiert haben, lebt auch das dritte Soloalbum dieses Ausnahmekünstlers von eben dieser Aufbruchsstimmung, dem Wunsch nach Vernetzung und kreativer Freiheit. Zurück zu seinen Rapper-Wurzeln begeistert „Hallo Welt!” mit einer speziellen Energie und poetischen Attitüde. Es besteht aus 15 Anspielstationen und beinhaltet Gastauftritte von alten und neuen Freunden. Nachdem Max im Intro die Welt begrüsst und mit Patrice & Fetsum für „Aufruhr“ gesorgt hat, berühren der luftig-leichte Soultune „DuDuDu“, das Hamsterrad-Liedchen „Jeder Tag zuviel“ mit Antonio und die hoffnungsvolle Ballade „Wolke 7“ mit Philipp Poisel. Super sind auch das rockig-rotzende „Einstürzen Neubauen“ mit Samy Deluxe, das unbeschwerte „Fühlt sich wie Fliegen an“ mit Cro & Clueso, die Straßenkreuzerbeats von „1992“ und das soulige „Vida“ an der Seite von Aloe Blacc, während „Berlin – Tel Aviv“ mit Sophie Hunger nachdenklich stimmt und mit der Thematik der Judenverfolgung im Dritten Reich nach wie vor tief erschüttert. „Nicht vorbei (bis es vorbei ist)“ fühl’ ich genau so intensiv wie „Rap ist“ (feat. Megaloh). Mit seiner Vision von rauer Sound-Textur und inhaltlicher Substanz ist „Hallo Welt!“ das Manifest eines kritischen Optimisten und eines Musikers, der die Grauzonen des Lebens akzeptiert, sich aber weigert, die heute so gängige Flucht in Zynismus und Verbitterung mit anzutreten. Ein ganz großer Wurf mit ganz viel Seele!

www.maxherre.de
www.nesola.de


Neonschwarz: Unterm Asphalt der Strand EP
audiolith

Captain Gips und Johnny Mauser sind zwei Hamburger mit Herz und Hirn, die mit Vorliebe linke Haken verteilen und Rap mit Aussage wieder nach vorne bringen. Sie ergänzen sich perfekt: Mauser, der Studentenrapper und bunte Hund der Antifa und der Captain, Freund der Hängematte und Feind deutscher Arbeitsmoral, der als „Bettman“ die Menschheit zu horizontaler Solidarität auffordert. Im Jahre 2009 lernten sich die beiden zwischen Spraydosen und Schablonen kennen. Seitdem rappen sie jenseits vom Stammtischgeleier über Themen wie städtische Freiräume, gesellschaftliche Fesselspiele, Bildung, Überwachung und Flüchtlingspolitik. Nach ihrem Album „Neonschwarz“ und dem YouTube-Blockbuster „On A Journey“ 2010 gemeinsam mit der Hamburger Sängerin Marie Curry, kennt wohl jedes autonome Jugendzentrum zwischen Kiel und Bern das neonschwarze Dreigestirn. Beim Hamburger Superlabel Audiolith haben die drei einen vertrauensvollen Patenonkel gefunden und sind dort in bester Gesellschaft von Bands wie Egotronic, Frittenbude und Supershirt. Zu den beiden Singleauskopplungen „Heben ab“ und „On A Journey“ gesellen sich auf ihrer aktuellen EP „Unter’m Asphalt der Strand“ das nationalismuskritische „Heimat im Herzen“, die brachialelektronische Verwandtschaftsanalyse „Militante Tante“, das persönlich-nachdenkliche „The Rain“ und das den Gleichschritt durcheinanderbringende „Bis die Scheiße aufhört“. Dazu gibt’s drei hörenswerte Remixes zum Abheben von NVIE Motho, Brazed und Joney. 100% Zeckenrap (keine eingetragene Marke).

www.audiolith.net/neonschwarz


Madsen: Wo es beginnt
Columbia / four music

Madsen habe ich zum ersten Mal in der Kollabo zwischen Sebastian und Egotronic auf deren Album „Macht keinen Lärm“ gehört. Der gemeinsam mit Torsun & Co. eingespielte Track „Planet Disco“ gefiel mir so gut, dass ich mir vorfreudig das neue Madsen Album „Wo es beginnt“ bestellt habe. Die Rockband aus dem Wendland gibt’s schon seit 2005 und nach ihrer letzten Pop-Platte „Labyrinth“ ging es zurück, um alles so zu machen wie auf den ersten beiden Alben. Wieder nahmen Madsen im Gaga Studio in Hamburg auf, und gemischt wurde wie früher mit Moritz Enders im Tritonus in Berlin. „Das Album ist aus dem Moment, aus dem Bauch heraus entstanden“, sagt Sebastian. Und so haben die vier Jungs in Eigenregie ein tolles Rock-Album mit harten, schnellen Riffs produziert, das man am besten verdammt laut hört, damit sich die ganze Energie auch richtig entfalten kann. Da ich nicht so der Rocker bin, sind für mich die besten Songs das nachdenklich und gleichzeitig Mut machende „Die Welt liegt vor dir“, der klassische Wutsong „Generation im Arsch“ und das groovige „Nimm den Regen mit“ – und mein Lieblingssong ist auf jeden Fall die schöne Ballade „So cool bist du nicht“ – ein wunderschönes Duett mit Live-Keyboarderin Lisa Nicklisch alias Lisa Who. Denn ich mach’s wie Madsen: Neuorientierung. Drei bis vier Schritte zurück. Den Kopf klar bekommen. Die obersten Hemdknöpfe lösen. Das Pfand in den Getränkemarkt bringen. Die Plektren sortieren. Sich auf das besinnen, was man hat. Denn es beginnt, wo es beginnt. Frisch und voller Power.

www.madsenmusik.de
www.sonymusic.de


Adrian Sherwood:
Survival & Resistance

on-u sound

Er zählt zu den Urgesteinen und Schlüsselfiguren des britischen Dub, wobei er mehr Elektronik eingesetzt, Stil übergreifender gearbeitet und ungemütliche, industrielle Klänge nie gescheut hat ohne sich auch nur irgendwie um den Zeitgeist zu scheren. Ohne ihn wären Trip Hop und der Sound of Bristol so wohl kaum denkbar gewesen. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist Adrian Sherwood einer der feinsten, einflussreichsten und innovativsten Produzenten Produzenten und Remixer. Mit „Survival & Resistance“ präsentiert uns der Zeremonienmeister des British Dub Reggae nun ein neues Soloalbum auf seinem Kult-Label On-U Sound. Düstere Atmosphären, ein entspanntes Tempo, schleichende elektronische Klänge und ein fast schon orchestraler Ansatz im Arrangement sind auf den zehn Tracks mit einem unbeirrbaren Gespür für Melodien und Analog-Technik verbunden. Neben dem etwas unbehaglichen Opener „Balance“ gefallen mir vor allem das jazzig-geschmeidige „Starship Bahia“, das dynamische „Effective“ und der klassische Vocal Dub von „We Flick The Switch“. Indem das Album die jüngsten Londoner Ausschreitungen und die gegenwärtige, internationale Wirtschaftskrise aufnimmt, formuliert es eine ernsthafte Kritik der Ungerechtigkeiten der Gegenwart. Wer düster elektronische Klanglandschaften mit viel Echos und abgrundtiefen Bässen mag, kann hier bedenkenlos zugreifen. Ausgeglichen und tiefenentspannt groovt hier der spannungsreich elektrisierte Trademarksound zwischen Dub, Blues-Roots und brasilianischem Bossa mit experimentellen Nuancen.

www.adriansherwood.com
www.on-usound.com


Tastatur: Electric Lounge Machine
everest records

Die beiden Protagonisten hinter diesem Projekt sind in der Elektronik-Szene keine Unbekannten: Daniel Wihler ist unter den Pseudonymen Alphatronic und Mustfuzz aktiv und hat u.a. auf Anthony Rothers Label PSI49net veröffentlicht, sein Partner Jakob Stoller (DJ Ramax) hat nicht zuletzt mit Remixen und Sampler-Beiträgen auf sich aufmerksam gemacht. Beide Künstler sind alte Freunde und teilen die Leidenschaft, mit ihren musikalischen Erkundungen in unbekanntes Terrain jenseits der Dancefloor-Konventionen vorzustossen. Als Tastatur verschmelzen die beiden Schweizer Ambient Techno / IDM mit sphärisch fliessenden Sounds und Minimal Dub-Bässen zu vielschichtig komplexen, aber dennoch reduzierten Tracks, die sowohl im Club als auch zuhause auf dem Sofa funktionieren. Das überlange Intro klopft düster wie eine „Rolldose“ vor sich hin und driftet in das ebenso spannungsgeladene „4.Obergeschoss“. Dann zwitschert und blubbert es mit „55Hz“, „Dandanchak“ und „Pepadsh“ dunkel, bis die Stimmung durch einen synthetisch schwingenden „Eierkuchen“ aufgelockert wird. Mit „Swirrel“ gibt’s in der Mitte des Albums urplötzlich dickere Beats, und im „Daemmerzustand“ könnte erstmals getanzt werden. Das Tempo wird etwas angezogen, und die Party geht im „Hausgang“ weiter, wenn Synthies moduliert werden und eine mitreissende Atmosphäre schaffen. Auch „Bubble Control“ und „Electric Lounge Machine“ wirbeln nur so durch den Raum. So liefern Tastatur feinen Electro mit Spieltrieb und viel Herz. Ich präferiere übrigens das heimische Hörvergnügen.

www.soundcloud.com/tastatur
www.everestrecords.ch


GLÜCK
Nach der gleichnamigen Erzählung von Ferdinand von Schirach
constantin film DVD – Drama

Im Jahr 2009 landete der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach einen Überraschungshit mit seinem Buch „Verbrechen“: Elf wahre Fälle aus seiner Anwaltspraxis, erzählt in lakonischen Kurzgeschichten. „Glück“ ist eine davon. In über 30 Ländern wurden die Rechte an „Verbrechen“ verkauft, die Filmrechte sicherte sich Constantin Film und Doris Dörrie machte aus „Glück“ einen Liebesfilm, der nun auf DVD erscheint.
Noah Leyden (Matthias Brandt) ist Strafverteidiger und bezeichnet sich als Spezialist für die Suche nach Glück und den Moment, wo das Glück uns verlässt. Er erzählt die unfassbare Geschichte von Irina (Alba Rohrwacher) und Kalle (Vinzenz Kiefer) – zwei Gestrandete, die zueinander finden und das eben erst entdeckte gemeinsame Glück mit allen Mitteln zu verteidigen suchen.
Irina verlässt das Glück, als ihr Land vom Krieg überrollt wird, Soldaten in ihr Zuhause eindringen, ihre Familie töten und sie vergewaltigen. Traumatisiert flüchtet sie nach Berlin und arbeitet dort als Prostituierte. Auf der Straße lernt sie den Obdachlosen Punk Kalle kennen.
Die Beiden verlieben sich, zaghaft, und beginnen, sich ein kleines Leben aufzubauen. Eines Tages bricht ein Freier (Oliver Nägle) tot zusammen und Irina flüchtet in Panik. Kalle kommt nach Hause, entdeckt die Leiche – und beschließt, sein Glück mit Irina zu bewahren.
Sexarbeit und Protestbewegung – das scheinen in Deutschland immer noch heikle Themen zu sein. Umso schöner, dass Doris Dörrie in ihrem neuen Film „Glück“ an der Liebesgeschichte zwischen dem Punk Kalle und der Prostituierten Irina zeigt, dass auch die Menschen aus diesen Bereichen der Gesellschaft wie alle anderen auch nach ihrem eigenen Stück Glück und Zufriedenheit streben.
Beachtlich ist es auch, dass Dörrie der Versuchung nach grossen Posen und Pathos widersteht. Es ist ein fast intimes Porträt zweier Liebender geworden, also mehr zärtliche Skizze als epische Romanze, und das macht den Charme des Films aus.
Ausserdem erscheint ebenfalls am 06.September mit „Männer“ auch noch die grossartige Erfolgskomödie mit Heiner Lauterbach und Uwe Ochsenknecht, die Doris Dörrie über Nacht berühmt machte und die mich nach wie vor zum Schmunzeln bringt.

www.glueck-film.de
www.constantin-film.de

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