Dienstag, 17. Juli 2012

Drogenmündigkeit

Ein vielzitierter Begriff und was damit wirklich gemeint ist!

Als der Begriff Drogenmündigkeit in den 90er Jahren in die Debatte eingebracht wurde, löste er zunächst Verblüffung und Nachdenken auf der einen, wütendes Kontra und persönliche Diffamierung auf der anderen Seite aus. Heute ist der Begriff Drogenmündigkeit in vielen Mündern, wird mit vielen Auslegungen gedeutet und hat sich in der nach wie vor harten drogenpolitischen Debatte zu einem Symbol aufgeladen. Hier steht er für das Recht, sich von den Bevormundungen einer Abstinenzideologie zu befreien und auch in Bezug auf den Konsum psychoaktiver Substanzen sich selbst zu ermächtigen. Wenn allerdings auf Drogenmündigkeit auch Internetseiten verweisen, auf denen kommerzielle Händler von Research Chemicals für Substanzen werben, deren Wirkmuster kaum berechenbar ist und deren Risiken nicht bekannt sind, sind Klarstellungen überfällig, was mit Drogenmündigkeit gemeint ist.
Das Konzept der Drogenmündigkeit unterscheidet sich grundsätzlich von abstinenzorientierten Glaubenssätzen, die die Fähigkeiten der Menschen zu autonomem Handeln grundsätzlich infrage stellen und davon ausgehen, „[…] dass die Mehrheit der Menschen nur dann richtige Entscheidungen treffen wird, wenn man sie kontrolliert, ‚gefährliche Informationen‘ zensuriert, sie bevormundet und ihnen Lustverzicht sowie Risikoverringerung durch Enthaltsamkeit nahe legt.“ (Uhl 2007, S. 9) Im Gegensatz dazu beruht das Paradigma „Drogenmündigkeit“ auf einer demokratisch-emanzipatorischen Grundüberzeugung: Diese geht davon aus, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen autonom die für sie passende und damit richtige Entscheidung auch für den Umgang mit psychoaktiven Substanzen treffen wird, wenn sie die Chance hat, sich durch entsprechende Fähigkeiten, Motivationen und Möglichkeiten dazu in den Stand zu versetzen. Drogenmündigkeit setzt ein Handeln voraus, das eine spezifische Qualität hat und stellt sich nicht von selbst ein. Sie hat eine komplexhafte Struktur aus sehr unterschiedlichen Voraussetzungen des Handelns, um den sehr verschiedenen, ineinander greifenden Anforderungen an einen geglückten Umgang mit psychoaktiven Substanzen gerecht werden zu können. Deshalb kann nicht jeder Konsument für sich reklamieren, dass sein aktuelles Konsumverhalten diesen Leitideen entspricht. Insofern ist wichtig zu wissen, was mit Drogenmündigkeit gemeint ist und über Austausch und Diskussion zu einem weitgehenden Konsens darüber zu kommen.

Drogenmündigkeit:
Ein anforderungsreiches Handeln

Der Begriff Drogenmündigkeit wurde sehr prägnant definiert: Der Begriff fasst einen Komplex von Kenntnissen, Fähigkeiten, praktischen Fertigkeiten, Einstellungen, Bereitschaften, Gefühlen, Phantasien, „landläufigen“ Interpretationen, Weltanschauungen, Formen des Umgang mit Zwängen, Willensbildungen und ähnliches zusammen, der Menschen befähigt, sich eigenständig in vielfältigen Alltagssituationen zu orientieren und zu geglückten Formen des Umgangs mit psychoaktiven Substanzen zu finden. Diese Definition erscheint dem Leser möglicherweise lapidar, wenn die damit verbundenen Konnotationen und weitreichenden Feststellungen übersehen werden.
Mit dem Griff zu Substanzen mit psychoaktiver Wirkung werden erstens ernstzunehmende, fachkundliche Anforderungen gestellt, denen die Konsumenten durch entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten gerecht werden müssen. Diese betreffen vor allem das Wissen um das Wirkspektrum der jeweiligen Substanz auf Körper und Psyche, Kenntnisse, wie der Handlungsspielraum für den Konsum unbeschadet genutzt werden kann, und praktische Fertigkeiten zur sachgerechten Umsetzung dieses Wissens in konkrete Konsumakte.
In diesem Zusammenhang wird zweitens auch die Auseinandersetzung mit den soziokulturell entstandenen Gebrauchsregeln, Bräuchen und Ritualen sowie mit normativ vorgegebenen Einnahmeempfehlungen wichtig. Diese variieren wiederum je nach Kontext – schon was zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort als richtig/passend gilt, ist zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort falsch/unpassend. Soziokulturelle Gebrauchsregeln können aber als geronnene Erfahrung gelten und in dieser Form helfen, Risiken und Gefahren zu vermeiden. Sie zu kennen und im Handeln zu respektieren ist deshalb für einen geglückten Substanzkonsum unverzichtbar.
Es entspräche allerdings einem substanzfixierten Denken, die besonderen Voraussetzungen, die an den Umgang mit psychoaktiven Substanzen gestellt sind, allein aus der Auseinandersetzung mit den chemischen Bestandteilen der konsumierten Stoffe und deren Wirkung auf Körper und Psyche abzuleiten. In den Blick zu nehmen ist drittens, dass die meisten psychoaktive Substanzen zu Kulturgütern geworden sind oder sich in Prozessen im Zuge der Herausbildung einer Drogenkultur befinden. Deshalb realisiert der Konsum mit seinen Inszenierungen und Sinnsetzungen auch viele soziale und kulturelle Funktionen, die zu verstehen und der jeweiligen Situation entsprechend einzuordnen sind. Das gemeinsame Rauchen von Haschisch schafft beispielsweise sozialen Schmierstoff, über den sich Gemeinsamkeiten leichter herstellen, Konflikte friedlicher austragen und soziale Harmonie schneller schaffen lässt. Diese Hintergründe sorgen dafür, dass an den Konsumenten auch die Erwartung gestellt ist, diese Kulturtechniken gekonnt und der Situation angemessen nutzen zu können. Immerhin werden mit dem Substanzkonsum nicht nur unterschiedliche Botschaften transportiert. Es existieren zugleich Erwartungen, ein und dieselbe Substanz in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedlich handhaben zu können.
Diesen sozialen Vorgaben kulturell angemessen entsprechen zu können oder sich diesen gegebenenfalls gekonnt zu verweigern, wird zu einer wesentlichen Voraussetzung für einen geglückten Umgang mit psychoaktiven Substanzen. Die soziokulturellen Bezüge, in die der Umgang mit psychoaktiven Substanzen eingeordnet ist, verlangen dem Konsumenten folgerichtig diverse soziale Fähigkeiten ab.
Viertens sind psychoaktive Substanzen auch auf höchst persönliche Art in das Leben der Konsumenten einzuflechten, schließlich ist der Substanzkonsum nicht separierbares „Sonderleben“. Insofern stehen die Konsumenten vor der Aufgabe, die Erfordernisse und Effekte des Konsums in ihrer Passfähigkeit zu den Alltagsbezügen zu prüfen und in Abwägung zu anderen Anforderungen und Bedürfnissen zu gestalten. Das bedeutet nicht nur, zu Formen des Umgangs zu finden, die dem Einzelnen ein positives Miteinander, Anerkennung, das Erleben von Wechselseitigkeit, Chancen für Selbstgestaltung, Möglichkeiten für Intimität sowie das Erleben von Identität, Generativität und Integrität ermöglichen. Mit der spezifischen Wirkungsweise psychoaktiver Substanzen ist den Konsumenten zugleich die Aufgabe gestellt, sich mit sehr persönlichen Präferenzen für Appetit, Geschmack, Genuss sowie mit Bedürfnissen nach einem Losbinden von triebzügelnden Normativen, Rausch und ähnliches auseinanderzusetzen.
Im Ergebnis sind für das Realisieren dieser Bedürfnisse immer wieder richtige/passende soziale Räume sowie Zeiten und Muster zu finden. Ist das abendliche Kiffen beispielsweise während eines Urlaubsaufenthaltes in Wald und Wiesen kaum diskutabel, ändert sich das Urteil bereits, wenn der Urlaub ein Klettertrip oder eine Wasserwanderung zusammen mit anderen ist oder wenn der Wald- und Wiesenurlaub mit Kleinkindern gemacht wird.
In diesem Zusammenhang ist von den Konsumenten fünftens zu berücksichtigen, dass der Substanzkonsum immer auf die aktuelle, individuelle körperliche, psychische und soziale Verträglichkeit bezogen werden muss. Diese ist höchst variabel und ändern sich ständig (z.B. durch unterschiedliche Grade von Erschöpfung, durch Stress, durch sich anbahnende, abklingende oder sehr präsente Erkrankungen, durch situativ gestellte, besondere Anforderungen und Verpflichtungen). Diese unterschiedliche Verträglichkeit ist deshalb realistisch wahrzunehmen, um darauf angemessen reagieren zu können.
Drogenmündiges Handeln ist schließlich sechstens dadurch geprägt, dass die angestoßenen individuellen Effekte des Substanzkonsums wie das zeitweise Losbinden vom Alltag, die Orientierung auf die eigene Person, Genuss, Grenzerfahrungen und Lustgewinn immer auch fürsorglich in soziale/gemeinschaftliche Ziele (z.B. das Vermeiden von Selbst- und Fremdschädigung) eingeordnet werden. In diesem Sinne beinhaltet Drogenmündigkeit nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Dies erklärt auch, dass die individuelle Entscheidung zum Konsumverzicht/Abstinenz (lebenslang oder situativ) ebenfalls als Mündigkeit gedeutet werden kann.

Drogenmündigkeit:
Voraussetzung für einen passenden Umgang mit psychoaktiven Substanzen

In der Zusammenschau der Bedeutungen und Zusammenhänge, die mit dem Begriff gemeint sind, erweist sich Drogenmündigkeit als Handeln, das auf anspruchsvollen Voraussetzungen beruht, die zudem höchst komplex miteinander verbunden sind und erst in dieser Struktur auch die Qualität erlangen, mit denen zu einem geglückten Umgang mit psychoaktiven Substanzen gefunden werden kann.
Im Ergebnis von Drogenmündigkeit entsteht ein sachkundiger, autonom entwickelter, selbst kontrollierter, sozial integrierter, gegebenenfalls auch genussorientierter, vor allem aber geglückter Umgang mit psychoaktiven Substanzen. Der geglückte Substanzkonsum ermöglicht dem Einzelnen die selbstbestimmte und selbstverständliche Teilnahme am allgemeinen gesellschaftlichen Leben und verschafft ihm die Gewissheit geglückten Lebens in all seinen Facetten. Dies insbesondere deshalb, weil ein geglückter mündiger Substanzkonsum mit von außen gestellten und mit selbst gesetzten Anforderungen und Aufgaben vereinbar wird und an Stelle irrationaler Handlungsroutinen ein bewusstes und differenziertes Risikomanagement tritt.
Es stellt sich nun die komplizierte Frage, wieweit es trotz Verbot und Kriminalisierung, trotz Verfolgung und Zerschlagung drogenkultureller Ansätze, trotz einer, auch durch das Internet vorangetriebenen permanenten Umwälzung der Angebotspalette psychoaktiver Substanzen und einer damit einhergehenden Vereinzelung der Konsumenten gelingen kann, massenhaft die Entwicklung von Drogenmündigkeit unter den Konsumenten psychoaktiver Substanzen, also unter der gesamten Bevölkerung, voranzubringen.

Literatur:
Barsch, G.: Lehrbuch Suchtprävention – von der Drogennaivität zur Drogenmündigkeit, Geesthacht 2008
Uhl, A.: Begriffe, Konzepte und Menschenbilder in der Suchtprävention, in: Suchtmagazin 4(2007), S. 3-11

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