Mittwoch, 29. Juni 2005

ROLYS GENRE-LEXIKON LESSON VII.

FAKE-TRENDS

Zum Abschluss meines Genre-Lexikons der Elektronischen Tanzmusik erlaube ich mir, einige Fake-Trends aufzugreifen und zu erläutern, andere lasse ich – was allein schon reine Zeitverschwendung ist – besser unkommentiert stehen, da sie sich meist schon von selbst erklären. Viel Spaß!

Wie wir ja bereits – vor allem sehr genervt – wissen, ließ der Einfluss des Techno Anfang der 1990er-Jahre die harten Beats im 4/4-Takt auch in die Popmusik einfließen. Es entstand der Dancepop oder auch Eurodance, dessen wesentliche Merkmale meist eine sehr einfache, tanzbare und harmonische Struktur, ein Techno-ähnlicher, monotoner Beat im 4/4 Takt und ein Wechselspiel zwischen einer Sängerin und einem Rapper (Male Rap & Female Hookline) ist. Als Pioniere des Eurodance gilt die deutsche Gruppe Snap mit ihrem Hit „The Power“ (1990). Am erfolgreichsten war die neue Welle in den Jahren 1992–93, ab 1994 ebbte sie wieder ab, weil es wohl kaum neue Impulse innerhalb des Genres gab. Die meisten Gruppen übernahmen das Schema der frühen Jahre Eins zu Eins, weshalb der Begriff Eurodance heute eigentlich ein Schimpfwort in der Musik-Szene ist. Dennoch tauchen Elemente des Eurodance nach wie vor in aktuellen Pop-Produktionen auf.

Der US-Dancefloor ist ein in den USA Anfang der 1990er-Jahre entstandener Ableger des Eurodance und damit ein Vertreter der massentauglichen, kommerziellen Linie der elektronischen Tanzmusik. Wie der Eurodance basiert auch der US-Dancefloor meist auf Raps, doch die poppigen Melodie-Elemente, die den Eurodance prägen, sind beim US-Dancefloor zugunsten von funkigen Rhythmus-Elementen zurückgenommen. Somit weist der US-Dancefloor einige Gemeinsamkeiten mit dem Hip House auf, im Gegensatz zu diesem ist er jedoch eingängiger und stärker von Synth-Sounds geprägt. Bekannte Interpreten waren z. B. Reel 2 Reel („I Like To Move It“), 20 Fingers („Short Dick Man“) und The Outhere Brothers („Boom Boom Boom“), deren Titel weltweit zu Chart-Breakern wurden.

Ende der 1990er kam es zu einem Revival und es entstand der Begriff Future Pop, der eine Mischung aus der Ästhetik der New Romantics, der Electronic Body Music (EBM) und modernen Elementen aus TripHop, Dancepop und sogar Drum&Bass bezeichnete.

Ein weiterer Ableger, an den ich mich mit Schrecken beim Verfassen dieses Textes erinnern muss, ist der so genannte Dreamhouse, ein Sub-Genre von Trance mit House-Einflüssen, das Mitte der 1990er-Jahre sehr erfolgreich war. Charakteristisch für den Dreamhouse sind die „träumerischen“, meist melancholischen Melodien, die von einem tanzbaren 4/4-Beat unterlegt sind. Auf House verweist eigentlich nur der relativ langsame Beat, die sonst anzutreffende Funkyness ist im Dreamhouse sehr stark zurückgenommen. Der archetypische Titel des Dreamhouse ist „Children“ von Robert Miles (1995), der die Welle zum Rollen brachte. Spätestens ein Jahr danach war der ganze Hype jedoch wieder vorbei. Verwandt mit dem Dreamhouse, aber meist härter und weniger „träumerisch“, ist – bevor ich mich gleich übergeben muss – der Pizzicato-Trance.

Kommen wir zu den Sub-Genres des Speedcore, die so fertig sind, dass es fast wieder Spaß macht, sie zu beschreiben: Bei Frenchcore tritt die Kickdrum in den Vordergrund, diese wird aber in jener Facette des Speedcore nicht verzerrt, sondern bekommt einen eher rollenden treibenden Effekt, was die Sache etwas fluffiger macht. Bei Terror(-core) – selbiger Begriff existiert auch im Punk/Metal-Bereich – geht es darum, die „Abgefucktheit“ eines Songs zu steigern, indem das Ganze dann so klingt, als wäre man in einem akustischen Massaker. Noize(-core) treibt den Gedanken weiter, dass die Musik aufwühlend und chaotisch ist, was eher den Charakter eines Intelligenztestes hat, weil man notgedrungen versucht, in den Noize-core Muster oder Instrumente hineinzudeuten und dahingehend wundersame Fantasien ermöglicht werden. Bei Splitter(-core) haben mal ein paar Spinner Speedcore-Vinyls von 33 rpm auf 45 rpm gespielt, mit der Folge, dass die Musik keinen Bass mehr hatte, aber so schnell war, dass es wie ein zersplittertes Glasfenster geklungen hat, wodurch mal wieder eine Obergrenze überschritten wurde. Für die Hardliner, die am Ende der Party noch nicht aus dem Floor verschwunden sind und nie genug bekommen können, ist schließlich Deathcore/Xtremecore ganz gut geeignet, da dann endgültig Schluss mit lustig ist.

Der letzte Fake-Trend ist auch einer der absurdesten, die ich je gehört habe, und daher gibt’s jetzt nochmal die volle Packung Müll: Cosmic ist zugleich eine und auch keine Musik-Richtung. Im Endeffekt entstand dieser Stil in Italien ab Mitte der 1970er-Jahre. Dort gab es eine Diskothek mit dem Namen „Cosmic“ und die Musik, die dort aufgelegt wurde, war so einzigartig, dass sich eben dieser Name auch stellvertretend für die Musik-Richtung etablierte. Die Gründungsväter, also die DJs, mischten aus verschiedenen Musikrichtungen erlesene Stücke so, dass ein durchgehendes Gesamtwerk entstand. Entscheidend war, dass die Stücke ohne Pausen und in gleicher, angepasster Geschwindigkeit vermischt wurden. Dabei wurden auch Langspielplatten, die normalerweise mit 33 rpm liefen, auf 45 rpm gespielt und entsprechend nachgepitcht. Es wurden Songs aus allen Ländern und aus vielen verschiedenen Musik-Richtungen verarbeitet, wie z. B. aus Funk, Afro, Brasil, Reggae, Ragga, Banghra, (Oldschool)-Elektro, Rock, Pop, später auch HipHop, TripHop, Big Beat bis hin zu Trance und neu-elektronischer Musik. Hinzu kam noch ein einzigartiges Lichtspektakel und die extravagante Inneneinrichtung. Übrigens wurden in der Cosmic-Disco keinerlei Alkoholika verkauft, dafür gab es aber massig Gras zu qualmen. Es gab auch keine Sitzmöglichkeiten, nur Tanzfläche, Lichtspektakel und Musik. Zu den ersten DJs gehörten D. Baldelli, DJ TBC, B. Loda, DJ Mozart, Fary, F. Fattori, Rubens, R. Fanceschi, Gege, Pery, Ebreo, Yano und Roberto Lodola. Cosmic war Ende der 1970er auch in anderen Diskotheken in Italien populär geworden und viele Jahre später exportierte ein Österreicher (der sog. Cosmic-Dieter-Bohlen) den Cosmic nach Österreich und Deutschland. Er übernahm den Hype aus Italien, vermischte ihn mit zu langsam gespieltem Techno und machte ihn massentauglich. Er begründete die Stilrichtung „Cosmic Music“, welche aber nicht mehr viel mit den Roots dieser Musikrichtung gemein hat. Heute ist es computerisierte und standardisierte Sample-Musik, bei der immer wieder die selben Hits zum Tragen kommen. Wohingegen damals gerade die Andersartigkeit der einzelnen Musik-Richtungen ausschlaggebend war, werden heute nur noch die alten Lieder neu verarbeitet. Auch heute lebt Cosmic weiter, aber immer noch sehr regional begrenzt, in Italien, Österreich und Süddeutschland. Vielleicht ist Cosmic eine Art „Worldmusic“ oder doch eher eine Art „Spacemusic“, die eine eigene Dynamik und Energetik aufweist.

Weitere Fake-Trends, die die Welt noch nie gebraucht hat und ganz gewiss auch niemals brauchen wird, sind: Tribal House, Bhangra House, Kwaito, Symphonic Trance, Rio-Funk, Electro-Goth, Synthpunk, Trancestep, Tribal Breaks, Florida Breaks, Chemical Breaks, Intelligent Dance Music und Glitchcore. – Ich danke euch allen für die Nerven, diesen Schwachsinn zu lesen! Orientiert euch lieber an den Lessons I bis VI und freut euch hierbei an guter elektronischer Tanzmusik. Viel Spaß!

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