Samstag, 24. Juni 2017

Lang, lang ist’s her, als die Mehltüten flogen

Seine Meinung

 

 

Sadhu van Hemp

 

Vor fünfzig Jahren fiel in einem Berliner Hinterhof der Startschuss für eine Protestkultur, die das Lebensgefühl einer ganzen Generation veränderte. Als der Student Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 von einem Polizisten per Kopfschuss zum Märtyrer gemacht wurde, begann das „Rote Jahrzehnt“, dessen Potential auf dem „Weg durch die Instanzen“ kläglich verspielt wurde.

 

1967 – die Zeit war reif für eine Umwertung der Werte. Die Jugend wollte nicht mehr konform gehen und sich Normen unterordnen, die das Recht auf freie Entfaltung beschneiden. Vater Staat setzte im Gegenzug mit Polizeigewalt alles daran, den zivilen Ungehorsam im Keime zu ersticken. Doch die Sprengkraft der Jugendprotestkultur wurde unterschätzt – und das blutgetränkte Fundament der Bundesrepublik wurde brüchig.

 

Damals verwaltete (wie heute) eine Große Koalition die Unterlassungen der letzten Jahrzehnte, und eine innerparlamentarische Opposition existierte faktisch nicht. Die politische Kultur der Bonner Republik verkam zu Champagner- und Cognac-Gelagen der Politbonzen und Lobbyisten, und alles Denken und Handeln war westwärts und mit Wehmut nach hinten gerichtet.

 

Doch die Wunder der Aufbaujahre blieben plötzlich aus. 1966 befindet sich die bundesdeutsche Wirtschaft in einer Rezession, das Wembleytor fällt und Haschbruder Wolfgang Neuss wird wegen Nestbeschmutzung das SPD-Parteibuch entzogen. Die DDR bastelt und werkelt derweil emsig am „Antifaschistischen Schutzwall“. Alt-Nazis und Stalinisten sitzen an den Schaltstellen der verfeindeten deutschen Staaten und kämpfen im Kalten Krieg an vorderster Front, die mitten durch die Heimat läuft. Zudem ist die BRD ergebener Bündnispartner der Vereinsamten Staaten, die mit Napalm und Pestiziden die vietnamesische Bevölkerung flächendeckend massakrieren. Die Bundespolitiker schweigen, verschanzen sich hinter der Kadavertreue der deutsch-amerikanischen Freundschaft und verorten den Feind hinter dem Eisernen Vorhang – also im eigenen Land.

 

1967 war es soweit: Das Fass lief über. Schon länger schwappten die Wellen der amerikanischen Protest- und Hippiebewegung nach Europa herüber. Erst war es eine leichte transatlantische Briese, die sich jedoch schnell zu einen Tsunami auswuchs, dessen Auswirkungen bis heute zu spüren sind. In Westdeutschland wurden so gut wie alle Tabus gebrochen. Vor allem das Trauma des verdrängten Nationalsozialismus’ zerrten die Kinder des Tätervolkes an die Oberfläche. Das Obrigkeitsdenken verschwand aus den Köpfen der Jugend, und manch Alt-Nazi bekam von seinem Filius den längst fälligen Fausthieb ins Mettwurstgesicht. Der hohe Wert- und Moralanspruch der damaligen Erziehung ging angesichts der nicht mehr zu leugnenden Schuld am ersten industriell organisierten Massenmord der Weltgeschichte vollends verloren. Insbesondere in den bürgerlichen Familien herrschte Rebellion im Kinderzimmer. Teppichklopfer und Rohrstöcke zerbrachen am Widerstand der verlausten Brut, die lange Haare trägt, Zappamusik hört und kifft.

 

Während in Amerika die Peace-Bewegung aufbegehrte und gemeinsam mit Black-Panther-Aktivisten und Rockmusikern einen kulturellen Feldzug gegen die kriegslüsterne Heimat führte, schälte sich in Europa ein linksalternativer Lebensstil heraus. Die ersten Kommunen entstanden, Haschisch und LSD bereicherten das neue Lebensgefühl, und Uncle Sam stand der Alten Welt so nahe wie nie. Die Jugend gewann an Selbstbewusstsein und eigener kultureller Identität, die mit traditionellen deutschen Werten nichts mehr gemein hatte.

 

Zu allem Überfluss predigten „Saumenschen“ wie Oswald Kolle und Günter Amendt den „freien Sex“. Sittenstrolche hatten plötzlich freie Bahn und fanden in den Studentinnen willige Gespielinnen, die für tabulose Sexpraktiken gratis zu haben waren. Andere schlossen sich Hippiekarawanen an, die in den vorderen und hinteren Orient einfielen und mit feinsten „Schwarzen Afghanen“ oder „Grünem Lachtürken“ zurückkehrten. Die Subkultur gebar Freaks aller Art. Der eine lief wie ein Neandertaler herum, kiffte und trommelte den lieben langen Tag, andere entdeckten im LSD-Rausch die Esoterik, den Satanismus oder die Welt der orientalischen Mystik. So manches Kind aus gutem Hause verfiel den harten Drogen, und nicht wenige gaben in kürzester Zeit den verrußten Löffel ab. Eine beklemmende Nebenerscheinung war die Wiederentdeckung des Germanentums. Verirrte Töchter und Söhne der Nazigeneration huldigten nordischen Götzen, saßen in Steinkreisen ums Feuer und ritzten Runen und Hakenkreuze in ihre Amulette. Die Hippiephilosophie mündete in totalem Individualismus, der alle Denkweisen, ob anarchistisch oder naturreligiös, zuließ, solange sie freiheitlich-pazifistischen Ursprungs waren.

 

Für konservative und katholische Kreise war das der Untergang der Zivilisation. Das Establishment verstand die Welt nicht mehr und flehte um himmlischen Beistand, der in Person von Axel Springer gesandt wurde. Die Bildzeitung schürte das Feuer, indem sie die Verwahrlosung der Jugend als ostgesteuert hinstellte. Jeder, der lange Haare trug, wurde zum Staatsfeind erklärt, der entweder ins „Arbeitslager“ oder in die „Ostzone“ gehört, wenn die „rote Sau“ schon nicht „auf der Flucht“ erschossen werden darf.

 

In den Abendstunden des 2. Juni 1967 brach dann mit der Ermordung Ohnesorgs der Flächenbrand aus, der ein knappes Jahr später am Gründonnerstag mit dem Attentat auf Rudi Dutschke völlig außer Kontrolle geriet. Ein extra aus München angereister „Bildzeitungsleser“ hatte auf den verhassten Studentenführer drei Kugeln abgefeuert, und Wut und Trauer entluden sich in spontanen Aktionen gegen den Haupthetzer, die Springer-Presse. In Kreuzberg wurden die Zeitungswagen des Schmutzblattimperiums angezündet – ein Werk des Innensenators, dessen Büttel einen Lockspitzel beauftragt hatten, vorgefertigte Molotowcocktails zu verteilen.

Die brennenden Springerwagen wurden zum Fanal für die deutsche, aber auch französische Studentenrevolte. Nunmehr war die bislang friedlich agierende außerparlamentarische Opposition (APO) radikalisiert. Die Sammelbewegungen solidarisierten sich, und der Kampf gegen das Establishment wurde zur Lebensmaxime, ohne die der Nachwuchs nicht in den Spiegel schauen konnte.

 

Binnen kürzester Zeit verwandelte sich eine ganze Generation von Duckmäusern in renitente Gammler und Blumenkinder, die zum Schrecken der Bürger die Markplätze des einstigen Dritten Reichs bevölkerten, ungeniert Haschisch rauchten, Promiskuität predigten und die Anarchie ausriefen. Die moderne Kleinfamilie galt als Wurzel allen Übels, und die Flucht des Kindes aus dem Elternhaus brach so manches Mutterherz. In Stadt und Land gründeten sich Wohngemeinschaften und Kommunen, die einen alternativen Lebens- und Arbeitsstil führten und sich den gesellschaftlichen Zwängen gänzlich entzogen.

 

Zwei Jahre später gipfelte die Protestbewegung im „roten Experiment“: Westdeutschland „packte den Willy in den Tank“. Die Bundestagswahl 1969 war die historische Wende. Die SPD koalierte mit der FDP und Willy Brandt wurde Bundeskanzler. Das Undenkbare war plötzlich denkbar: Viermächteabkommen, Grundlagenvertrag mit der DDR, Transitabkommen, Reformen der Paragraphen 218 und 175 und vieles mehr.

 

Zugleich ging die Konsumindustrie daran, die Subkultur salonfähig zu machen. Identifikationssymbole werden kommerzialisiert und zu stereotypen Selbstbildern der Jugend umgewandelt, die Autonomie und Emanzipation vorgaukeln sollen. Die intellektuellen Mitstreiter der APO übten derweil die antiautoritäre Gesellschaft in elitären Kreisen und Zirkeln, gründeten Kinderläden, Initiativen und Selbsthilfegruppen, ohne dabei wirklich über den eigenen Schatten zu springen und Selbstsucht und Eigennutz hinten anzustellen.

 

Wie so oft waren es die mit der größten Klappe, die die gute Sache verrieten. Jeder kennt sie, die Profiteure und Wichtigtuer, Leute, die nie etwas beisteuern, den Joint heiß rauchen und hintenherum bei der Polente petzen. Plötzlich ging es um Macht und Geld. Eitelkeiten mussten bedient, die Zukunft gesichert werden. Der Junkie in der WG wurde unversehens zum Problem, mit dem man nicht mehr „klarkam“. Aus dem Jurastudenten wurde der Staatsanwalt, aus der Germanistin die migränegeplagte Lehrerin. Überlebende wie Stadtguerillero Fritz Teufel und Haschrebell Michael „Bommi“ Baumann wurden aus dem Freundeskreis entfernt, und den Eltern zuliebe trat man vor den Traualtar, um nicht enterbt zu werden. Die kiffenden Freunde wurden gemieden – wegen des Einzelkindes, das in der rauchfreien Eigentumswohnung an Muttis Brust nuckelt. Die militantesten Revoluzzer mutierten in den Folgejahren zu kleinbürgerlichen Mitläufern, die heute gut gepolstert auf der eigenen Scholle hocken und sich gerichtlich mit dem Nachbarn über den Knallerbsenstrauch am Maschendrahtzaun zanken. Die Jesuslatschen wurden abgelegt, die Batikkleider eingemottet, und die Vorsätze der guten alten Zeit sind nur noch ein paar schwarze Löcher in der Biographie.

 

Wer sich umguckt und die Mitbürger im Rentenalter etwas genauer betrachtet, der wird feststellen, dass es davon ganz schön viele gibt. Nicht jeder ist ein Alt-68-er, doch alle haben den Kulturschock miterlebt und daran partizipiert. Die Chance, die Welt ein bisschen besser zu machen, war da. Doch wie so oft war es das Menschlich-allzu-Menschliche, das den Traum von einer humanen und gerechten Gesellschaft wie eine Seifenblasse platzen ließ.

Heute – ein halbes Jahrhundert später – sind die Enkel der 68-er-Revoluzzer gefragt, wachen Geistes zu bleiben und Widerstand gegen das zu leisten, was schief läuft. Doch leider kommt die „Generation Smartphone“ nicht aus den Puschen – und wenn doch, dann sind es jene ewiggestrigen Spukgestalten, die sich in die düstere Zeit vor 1967 zurücksehnen.

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rainer sikora
6 Jahre zuvor

Es scheitert immer wieder am Zusammenhalt und am Durchhaltevermögen.